I’ve seen the future, brother, it is murder

So, meine Lieben, es ist soweit: ich mache den Laden dicht. Zumindest für die nächsten zwölf Monate. In genau einem Jahr, am 7. Januar 2023, werde ich noch einmal hier vorbeischauen und dann auch entscheiden, ob ich die Radikale Heiterkeit weiterführen werde. Was wird sich bis dahin geändert haben, da draußen, in der Welt, an der „Lage“? Wird da wohlmöglich etwas implodieren – mal abgesehen von den Nervensystemen jener, die immer noch glauben, mir sinnlose Vorschriften machen zu können? Wird der fünfhundertste Coronny-Sprößling nach dem zweiundvierzigsten Booster im Hirn von Karl Lauterbach zu einem neuartigen Turbohusten mutieren und die Menschheit endgültig ausradieren? Wird das noch interessieren? Wird dann überhaupt noch jemand einen Unterschied bemerken? Meine persönliche Wahrsagerin Ludmilla Kannstemalwiedersehnowa riet mir zum Anfang des Jahres, mich warm anzuziehen. Kann aber auch am Wetter liegen.

Bussi!

Sent from my iBunker


Give me crack and anal sex
Take the only tree that’s left
And stuff it up the hole in your culture
Give me back the Berlin wall
Give me Stalin and St. Paul
I’ve seen the future, brother, it is murder

Leonard Cohen, The Future

Der große Zukunftsschwindel

Ich laufe durch den Hauptbahnhof, vorbei an den digitalen Werbesäulen. „Kai Pflaume wird heute 53 Jahre alt!“ wird mir mehrmals mitgeteilt. Na, wer hätte das gedacht!? 53 Jahre! Das alte Schwiegersöhnchen! Moderiert nun schon seit Jahrzehnten tapfer alles weg, was Schwiegermüttern gefällt. Schwiegertochter gesucht. Oder Schwiegereltern im Glück. Goldene Hochzeit. Schwippschwagers Traumhochzeit. Herzblatt. Herzkranzgefäß. Herzkranke Schwiegermutter heiratet den Schwiegersohn sein Nachbarn seine Katze … Irgendsowas. Hier im Bahnhofsgebäude ist es vergleichsweise ruhig. Gerade erst habe ich den großen Reisebus-Protestkorso überlebt. Schönes Chaos mal wieder. Zehntausend Busse, die die Innenstadt verstopften, weil sie jetzt bitte auch Corona-Geld von der Regierung haben wollen – so wie die Lufthansa oder wer auch immer gerade wieder aus dem großen Steuertöpfchen naschen durfte. Dabei hupten die verdammten Busse so laut, dass den genervten Passanten die Trommelfelle platzten und nun erst Recht niemand mehr Mitleid mit der Branche hat. Läuft.

Vor dem Futurium dreht sich ein riesiger Teller auf einem ebenso riesigen Stab. Ich sehe das heute zum ersten Mal. Was ist das? Ein Gruß aus der Zukunft? Eine fliegende Untertasse mit abgekacktem Motor? Das neueste Physikprojekt der 5b aus der Gesamtschule Hellersdorf? Ein Denkmal für den mentalen Zustand Berlins? Die Untertasse scheint jeden Moment abzuheben und in die Spree zu sausen. Ich darf nicht zu lange hinschauen, sonst wird mir schwindelig. Schon spüre ich einen leichten Kreisel im Kopf. Im Futurium selbst war ich noch nicht drin. Kein Ahnung, was die da machen. Wahrscheinlich was ähnliches wie im Muppet-Labor, „wo die Zukunft schon heute gemacht wird.“ Dr. Bunsenbrenner, übernehmen Sie! Die Stadt schein langsam wieder zu ihrer alten Form hochzulaufen. Immer im Kreis. Und Kai Pflaume wird heute 53 Jahre alt. Muss man wissen.

Waschtag

Im Waschsalon hat jemand ein englisch-russisches Wörterbuch neben einer angefangenen Packung Trocknertücher liegengelassen. Ich sehe dies als hilfreiche Fügung. Nein, meine Russischkenntnisse möchte ich gerade nicht auffrischen, aber ich muss jetzt unbedingt mal eines dieser dünnen Tücher der Marke Lenor Aprilfrisch ausprobieren, für mich eine Premiere. Also rein mit dem Teil in den Trockner – wenn das Universum Anweisungen erteilt, darf ich nicht lange zögern! Den Rest der Packung hinterlasse ich der schlecht duftenden Nachwelt, Sharing is caring, in mir schlummert vielleicht doch noch ein Kommunist, Дружба, товарищи! Die Wartezeit verbringe ich im Café nebenan. Keine zwei Minuten vergehen und es passiert, was passieren muss: eine lippengepiercte Ökoschlunze jenseits der vierzig führt direkt vor mir eine öffentliche Erziehungs-Performance auf. „Kilian-Alexander, wir hatten doch eine Vereinbarung!“ ruft sie ihrem etwa 2-jährigen Sohn energisch zu, der nur orientierunglos in die Gegend grinst. Welche Vereinbarung er offenbar gerade nicht eingehalten hat, ist weder mir als Zuschauer noch dem Kleinen selbst klar. Wer weiß, wie viele er schon eingehen musste, alle notariell beglaubigt und wahlweise mit Nabelschnurblut oder veganen Fingermalfarben unterschrieben, da kann man schon mal durcheinander kommen. Ich denke kurz darüber nach, der nervigen Mutter eines der aprilfrischen Trocknertücher in den Mund zu stopfen, da sehe ich ein Buch aus ihrem Rucksack ragen, „Schmerzen verstehen“, und schon tut sie mir wieder ein ganz klein wenig leid. Am Nachbartisch sitzen zwei Experten vom Typ gescheiteter Startup und reden unbeirrt über den nächsten Finanzcrash. Der wird uns wohl spätestens Ende 2020 in den Abgrund reißen. Vielleicht auch erst 2021 oder 2022, die Beiden sind sich noch nicht ganz einig. Auf jeden Fall stehen die Zwanziger Jahre wieder vor der Tür und wer schlau ist, investiert jetzt noch schnell in Gold, ausländische Währungen oder in ein Ticket für Elon Musks Weltraum-Taxi. Denn im All gibt es keine faulen Kredite und keine EZB. Noch nicht. Vielleicht wird Kilian-Alexander ja eines Tages Hedgefont-Manager auf dem Mars – das wäre doch eine schöne Alternative zu dem ihm vorgezeichneten Weg (Erasmus-Studium, Fair-Trade-Praktika, Ödipus-Komplex) … Der wertvollste Finanztipp, den ich je erhalten habe, lautete übrigens: Warum versuchen Sie etwas zu sparen, das andere jederzeit nachdrucken können? Kurz darauf sitze ich schon wieder daheim, schnuppere an meiner tatsächlich dezent frühlingsfrischen Wäsche, höre dazu Musik und kippe meine schmutzigen Gedanken ins Internet. Das ist hier ja auch nichts anderes als eine mentale Waschmaschine im permanenten Schleudergang.

Futurama (ein Volk, ein Schrott)

Letzte Nacht habe ich von der Zukunft geträumt. Es war das Jahr 2075, der Himmel war voll mit radioaktiver Zuckerwatte und Philipp Amthor war gerade zum ältesten Staatsoberhaupt in der Geschichte der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland (seit 2050 „Autofriedhof West-Eurasien“) gewählt worden, knapp zwei Wochen nach seinem öffentlichen Coming Out vor der UN-Vollversammlung in Ulan-Bator. Die Tatsache, dass die Bevölkerung seines Staatsgebietes eigentlich nur noch aus vor sich hin rostenden Ersatzteilen bestand (die letzten verbliebenden humanoiden Steuerzahler waren längst auf die Raumstation „Angela II“ umgesiedelt worden), hielt den seit einer umfangreichen Gen-Therapie noch immer jugendlich agilen Präsidenten Amthor nicht davon ab, die zügige Umsetzung seines zentralen Wahlkampfversprechens anzukündigen: die Fertigstellung des Berliner Großflughafens bis 2080. „Wer soll mich aufhalten?“ rief er der stummen Menge Schrott entgegen.

speaker

Wo darf ich unterschreiben?

Petitionen sind wie Heroin. Beim ersten Mal verspüren Sie noch den vollen Kick, ein überwältigendes Gefühl von Glückseligkeit und Basisdemokratie macht sich in Ihnen breit. Sie erhalten Ihre erste Dankes-Email und Sie spüren: denen habe ich’s gezeigt, jetzt wird nichts mehr so sein wie es war! Schluss mit Ungerechtigkeit, Bienensterben, krebserzeugenden Gummibärchen und überhaupt mit der ganzen Schweinerei! Jetzt sind Sie drauf. Aber ab jetzt brauchen Sie graduell auch immer härteren Stoff. Sie werden nervöser, Ihre Augenlider fangen an zu zucken. Bald klicken Sie nur noch auf Petitionsaufrufe mit Überschriften wie „Die Zeit läuft ab!“ oder „Die Schlinge wird enger!“, illustriert mit Totenköpfen oder Kleinkindern mit Gasmaske. Unterschreiben Sie nicht mindestens ein Dutzend solcher Aufrufe am Tag, gehen Sie sofort auf Cold Turkey – und nein, damit ist nicht der Winter in der Türkei gemeint. Schweißgebadet und bis auf die Knochen abgemagert, starten Sie schließlich Ihre erste eigene Petition. „Das ist es“, denken Sie, „damit entkomme ich dem Teufelskreis!“ Doch es ist bereits zu spät. Sie sind ein Wrack. Ihre Eltern geben auf STERN TV tränenreiche Exklusiv-Interviews mit schwarzen Balken vor den Gesichtern und Ihre Freunde haben sich längst von Ihnen abgewandt. Dabei hatten Sie es doch nur gut gemeint.

Künstliche Intelligenz (Dauerverträge für Daueraufgaben)

„The Future. Together. Now.“ So tönte vor einigen Jahren die Versicherungsgruppe AXA. Für solche Slogans kassieren Werbeagenturen richtig üppige Honorare. In diesem Fall war es die ehrwürdige Agentur DDB. Die können so etwas wirklich gut, ihr eigener Slogan lautet „Imagine. Inspire. Influence“. Nonsens im Dreiklang, das verkauft sich immer gut. Wo war ich? Ach ja: The Future. Ich wollte eigentlich etwas über die Zukunft schreiben, genauer gesagt über die „Zukunft der Arbeit“ – ein bewährtes Saure-Gurken-Thema, zu dem ich nach der Lektüre einer alten WIRED-Ausgabe inspiriert wurde. Alle paar Monate taucht diese Frage in einem Feuilleton oder einem Wirtschaftsmagazin auf: Wie werden die Menschen in der Zukunft arbeiten? Werden sie überhaupt noch arbeiten? Die allgemein gängige Prognose lautet: eher nicht. Zumindest nicht mehr gegen Bezahlung. Wir steuern eindeutig auf die vollständige Abschaffung der Erwerbsarbeit zu. Wenn Sie nicht bereits von einem Roboter ersetzt wurden, müssen Sie wohl irgendwann einem Algorithmus oder einer Drohne weichen – egal, ob Sie derzeit noch auf Knöpfchen drücken, Excel-Tabellen anstarren oder hauptberuflich Werbeslogans verzapfen. Der Mensch ist überflüssig. Schon heute wird der Arbeitsmarkt, so behaupte ich mal ganz frech, zu einem großen Teil nur noch durch leidlich finanzierte Beschäftigungstherapien zusammengehalten. Effektiv betrachtet, liegt die Arbeitslosenquote in Deutschland wahrscheinlich längst bei 75 Prozent.

Im „Besetzungsmanifest“ des sozialwissenschaftlichen Institutes der Berliner Humboldt-Uni las ich neulich die Forderung an den Senat, „Dauerverträge für Daueraufgaben“ einzurichten. Genau so stand es da. Wie könnten solch dauerhafte Aufgaben denn aussehen? Die angehenden Sozialwissenschaftler formulieren es unter anderem so: „Hier diskutieren wir, kochen, feiern, putzen und machen Kunst. Wir vertrauen einander und unterstützen uns gegenseitig. Wir leisten Widerstand. Wir sind politisch.“ Und das Ganze bitte in Dauerschleife. So erfährt die Idee der „Künstlichen Intelligenz“ eine neue und gar schillernde Deutung. Was bitte wäre eigentlich der Unterschied zwischen einer solchen staatlichen Dauerversorgung und einem bedingungslosen Grundeinkommen? Letzteres würde ich auf jeden Fall unterstützen, gerade für die überspannten Hashtag-Revolutionäre in den öffentlichen Lehranstalten. Niemand sollte sich mehr zwanghaft für die Sinnhaftigkeit seines Tuns verantworten müssen. Was das an Papier und Nerven sparen würde! Wir diskutieren, wir kochen, feiern, putzen und machen Kunst. Bis in alle Ewigkeit. Den Rest erledigen die Algorithmen. The Future. Together. Demnächst.

Oben der Himmel, unten der Zaster

Evan Spiegel, 26, Snapchat-Gründer und derzeit jüngster Selfmade-Milliardär der Tech-Branche, gibt pro Jahr angeblich eine knappe Million Dollar für seinen Personenschutz aus. Das erscheint sinnvoll, denn mit dem Reichtum, zumal in solchen Dimensionen, wächst auch die Zahl derer, die einem auf die Pelle rücken: gute alte „Bekannte“, Speichellecker, Steuerfander, Raubmörder und am schlimmsten: ehemalige Geschäftspartner. Einen seiner Mitgründer musste Evan Spiegel kürzlich nach einem gerichtlichen Vergleich mit über 150 Millionen Dollar abfinden. Damit der endlich Ruhe gibt. Irgend jemand bleibt beim digitalen Goldrausch eben immer auf der Strecke. Man erinnere sich an Mark Zuckerberg und die berüchtigten Winklevoss-Zwillinge. Letztere mussten sich damals im Facebook-Streit mit läppischen 65 Millionen zufrieden geben. Und die mussten sie sich auch noch teilen, die Armen. Wer sich heute im Kampf der Social Media-Giganten mit weniger als einer Milliarde abspeisen lässt, spielt nur noch in der zweiten Reihe. Für Snapchat soll Zuckerberg dem kleinen Evan drei Milliarden Dollar angeboten haben. Der hat natürlich abgelehnt. Dafür hat er inzwischen bereits vier Milliarden auf der Kante, Tendenz steigend. Die Geschichte wiederholt sich. Wer im Billionaire Boys Club mitspielen will, der darf nicht käuflich sein. Das eigene Produkt ist alles. Und wo Menschen sich gegenseitig Schnappschüsse mit infantilen Filtern per Telefon (neuerdings auch per Brille) zuschicken, da ist die Gewinnspanne nach oben offen. Sky’s the limit!

Murder Weekly (Hühner, zur Sonne, zur Freiheit!)

„Aber ist es nicht wahrscheinlich, dass jeder, der auf dieser Welt etwas zählt (…) auf dem Weg nach oben den ein oder anderen Menschen umgebracht hat? Wenn man nur genug Leute umbringt, dann errichten sie einem Bronzedenkmäler neben dem Parlament in Delhi – aber das wäre Ruhm, und danach strebe ich nicht. Ich wollte nur die Chance, ein Mensch zu sein – und dafür reichte ein Mord.“

Ich hatte dieses Buch bereits vor Jahren geschenkt bekommen. Seitdem ist es immer wieder durch diverse Regale gewandert, ohne dass ich mich zur Lektüre durchringen konnte. Weshalb eigentlich? Vielleicht interessierte mich Indien einfach nicht genug. Obwohl die Inder und Chinesen doch spätestens in zehn Jahren endgültig das Ruder auf diesem Planeten übernehmen werden (erste Entscheidung im neuen Jahr: Hindi oder Mandarin lernen?) Vielleicht hatte ich auch einfach schon genug Reiseberichte von überspannten Damen gehört, die stets mit einem Haufen Eso-Tinnef, bunten Fotoserien, nervtötenden Weisheiten sowie mit Beschreibungen monströser Durchfallerkrankungen zurückkehrten. Eat, Pray, DiarrheaNatürlich war mir klar, dass die auf ihren Selbstfindungs-Trips genauso wenig über Indien gelernt hatten wie ich zuhause beim Streamen eines Bollywood-Musicals. Kurz vor Weihnachten habe ich dann endlich „Der Weiße Tiger“ von Aravind Adiga gelesen. Bin ich jetzt schlauer? Zumindest habe ich mir danach wieder einmal Gedanken darüber gemacht, was es eigentlich bedeutet, ein freier Mensch zu sein. „Der Weiße Tiger“ erzählt die Geschichte eines ungewöhnlichen Aufstieges, irgendwo zwischen „Slumdog Millionaire“ und “So wirst du stinkreich im boomenden Asien“. Die indische Gesellschaft wird hier als ein korrupter Moloch beschrieben, der sich nach außen als größte Demokratie der Welt verkauft, im Innern aber durch eine brutale Hackordnung zusammengehalten wird, in der immer noch die Herkunft über den Wert und das Schicksal eines Menschen entscheidet. Dass der Held in dieser Geschichte am Ende seinen Herren ermordet (das Wort „Boss“ wäre hier wirklich untertrieben und daher fehl am Platz), um sich so aus den Zwängen seiner niederen Geburt zu befreien, ist dabei gar nicht mal das Spannendste. Viel interessanter ist die Frage, warum so etwas nicht viel öfter passiert, und warum sich so unglaublich Viele mit der ihnen zugewiesenen Rolle als Menschen zweiter oder dritter Klasse abzufinden scheinen.

„Dass die Fahrer und Köche in Delhi alle ‚Murder Weekly‘ lesen, muss nicht heißen, dass sie ihren Herren demnächst den Hals durchschneiden. Sie würden natürlich gerne. Selbstverständlich stellen sich Milliarden Diener heimlich vor, wie sie ihre Arbeitgeber erwürgen – darum bringt die indische Regierung ja auch diese Zeitschrift heraus und verkauft sie für nur viereinhalb Rupien auf der Straße, sodass selbst die Armen sie sich leisten können. Es ist nämlich so: Der Mörder in den Geschichten des Blattes ist immer so gestört und sexuell abartig, dass nicht ein Leser sein will wie er — und am Ende wird er immer von irgendeinem ehrlichen, fleißigen Polizisten (ha!) gefasst, oder er wird vollkommen wahnsinnig und erhängt sich mit einer Bettdecke, nachdem er einen gefühligen Brief an seine Mutter oder seinen Grundschullehrer geschrieben hat, oder er wird vom Bruder der Frau, die er umgebracht hat, verfolgt und erwischt, verprügelt und erdrosselt. Wenn also Ihr Fahrer die ‚Murder Weekly‘ durchblättert, entspannen Sie sich. Für Sie besteht keine Gefahr. Ganz im Gegenteil.“

Können Sie sich noch an Truman Burbank aus der „Truman Show“ erinnern? Sobald der auf den Gedanken kam, aus seiner kleinen Welt auszubrechen, schob ihm die Regie alle möglichen Hindernisse in den Weg: plötzlich aufkommende Unwetter, Plakate mit Warnhinweisen zu den Gefahren des Reisens oder wohlmeinende Freunde, die ihn davon überzeugen wollten, dass es daheim doch immer noch am schönsten ist. Am Ende bricht er doch aus, ohne zu wissen was ihn erwartet. Der weiße Tiger dagegen kennt das Ziel seines Ausbruchs ganz genau. Er macht die Schauergeschichten aus „Murder Weekly“ zu seiner eigenen Biographie, ohne sich vor den Konsequenzen zu fürchten. Wer wirklich frei sein will, darf keine Angst haben. Der Hühnerkäfig der sozialen Kontrolle (Familie, Kollegen, Staat usw.)  – versuchen Sie mal, daraus auszubrechen. Versuchen Sie es. Nein? Nicht mal ein Versuch? Gestern habe ich mir eine Packung Taschentücher gekauft. Was das mit den erhabenen Gedanken zur Freiheit zu tun hat, fragen Sie? Nun, die Taschentuch-Industrie scheint sich neuerdings auch um weltanschauliche Fragen zu kümmern, denn auf einer Packung steht „Dream Big“, auf einer anderen „Enjoy the little things“. Heutzutage steht so ein Quatsch ja überall drauf. Ist das nicht auch eine subtile Art der Kontrolle – die Menschen mit Affirmationen, Glückskeksen und Kalendersprüchen bei der Stange zu halten? Auf dass sie gerade genug Optimismus zum Weitermachen aufbringen, aber bescheiden genug bleiben, nicht zu viel vom Leben zu erwarten? How about „Stop dreaming!“ and „Enjoy the big things!“ Sollte ich mich demnächst als Entrepreneur in der Drogerie-Branche versuchen, werde ich das auf meine Taschentücher drucken lassen. Und noch ein paar aufmunternde Zitate von Nietzsche, Müller und Joan Rivers („If I ever lose my middle finger, I will have nothing left to say!“) Make Naseputzen great again!

Und jetzt noch flott die obligatorische Neujahrsansprache. Ein mörderisches, brutales Jahr war es, so liest man überall. Eines, in dem man permanent betroffen zu sein hatte und sich gleichzeitig fragen musste, weshalb das Leben eines einzelnen Menschen, z.B. das eines Popstars oder einer ehemaligen Weltraumprinzessin, so viel mehr Aufmerksamkeit erhält als das von zwölf Zerquetschten. Und warum letztere immer noch wichtiger sind als eine halbe Million Kriegsopfer. Die Antwort ist, denke ich, recht simpel: Der eine schrieb „Last Christmas“, die anderen mussten es sich auf dem Weihnachtsmarkt anhören – wahrscheinlich auch noch wenige Sekunden vor ihrem Tod – und der Rest hatte weder für das eine noch für das andere ausreichend Freizeit und Gelegenheit. Die Chancen, ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen, vielleicht sogar eines, in dem man sich Urlaubsreisen leisten kann, Glühwein trinkt und nebenbei ein paar Spenden für die dritte Welt abdrückt – ganz zu schweigen von einer glamourösen, unsterblichen Existenz zwischen Kokainrausch und Klatschpresse – diese Chancen sind ganz offenbar noch immer ungleich verteilt. In diesem Sinne: Goodbye, George, und all ihr anderen. It’s hard to love, there’s so much to hate.

Süßer Vogel Jugend

Und so begab es sich also wie jedes Jahr zur Sommerzeit, dass sich Schulklassen von nah und fern im Stadtbild ausbreiteten. Befreit aus der Enge stickiger Hostels und Klassenräume und fast ausnahmslos gekleidet in die kurzlebigen Lumpen des PRIMARK-Imperiums, eroberten sie die öffentlichen Plätze, Bahnhöfe und Einkaufszentren. Dort präsentierten sie sich so unbekümmert wie ungelenk, laut schnatternd, immerzu zappelnd und dennoch als eine einzige träge Masse, zusammengehalten von klebrigen Milkshakes, Snapchat-Freundschaften und schmerzhaftem Hormonstau. Etwas abseits, im Schatten ihrer Gruppen, schüchterner und mürrischer als der Rest, drückten sich die Sonderlinge herum. Nur sie konnten den Gesang der Vögel hören in all dem Lärm. Aus ihnen würden später die Nobelpreisträger, Popstars und Serienmörder ihrer Zeit werden. So begab es sich wie jedes Jahr zur Sommerzeit.