Wir beten für euch

Ich stehe in der S-Bahn – wie immer in diesen Tagen ohne Maske, ohne Fahrschein und ohne Sorgen. Und wie immer passiert … nichts. Gar nichts. Ich werde nicht angesprochen, nicht verhaftet, kaum zur Kenntnis genommen. Die vermummten Zombies wagen nicht einmal den Blick-Kontakt. Ich bin Jesus, ich kann über’s Wasser gehen! Treue Jünger dieses Blogs wird das nicht verwundern, umweht mich doch seit jeher die Aura des Unantastbaren. „Fürchtet euch nicht!“ möchte ich den Zombies spontan zurufen, weiß aber gleichzeitig, wie nutzlos das ist. Angst ist immer noch die mächtigste Motivation, das habe ich in der Arbeitswelt gelernt. Jag ihnen nur genug Angst ein und sie machen alles mit. Sie mögen jammern, sich vielleicht beklagen, mit den Zähnen knirschen und auf „die da oben“ schimpfen. Aber sie machen mit. Immer. Vorm Bahnhof Gesundbrunnen steht ein junger Mann mit einem Schild: „Wir beten für euch“. Ich könnte ihn jetzt in Kurzarbeit schicken, schließlich bin ich sein Boss. Oder etwa nicht? Dann sehe ich ein Plakat „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ im Deutschen Historischen Museum. Darauf das bekannte Zitat „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Ab Montag wieder geöffnet. Sehr witzig. Ich fange an zu kichern. Ich bin Jesus, ich darf das.

Im Reich der Zähne und der Tränen

Anlässlich der 1000. Staffel von Germany’s Next Topmodel möchte ich hier einen Text abladen, den ich vor ungefähr sechs Jahren nach dem damaligen Finale eben jener wunderbaren Sendung verfasst habe und den ich bisher, soweit ich weiß, noch nicht im Internet veröffentlicht hatte. Bekanntermaßen sind Keith Richards und Heidi Klum die einzigen Menschen, die den nächsten Atomkrieg überleben werden, aus ihnen wird dereinst die neue Superrasse entstehen. Bis dahin gilt: immer schön einen Fuß vor den anderen, Personality zeigen und Gas geben – denn die Konkurrenz schläft nicht!


Ein Sandsturm zieht auf. Erbarmungslos peitschen Millionen kleiner Steine in das aufwendig geschminkte Gesicht eines Mädchens. Sie sitzt in einem offenen Helikopter und versucht, nach unten zu schauen. Gleich wird sie hinabgeworfen werden, fünfhundert Meter in die Tiefe, während sie für einen vorbeifliegenden Fotografen posieren soll. „Sexy! Sexy! Sexy!“ schreit eine Stimme irgendwo aus den wirbelnden Sandmassen. Wenn sie unten ankommt – in der mongolischen Wüste, in Dubai oder mitten auf dem Gaza-Streifen (sie hat während ihrer interkontinentalen Mission der letzten Wochen etwas Überblick verloren) – dann wird sie ihrem Ziel wieder einen Schritt näher sein. Vorausgesetzt sie überlebt den Aufprall und das nächste Foto-Tribunal … 

Als ich aufwache, ist es kurz vor Mitternacht. Ich habe das große Finale verpasst. Ich reibe mir die Augen und schalte den Fernseher ein. Dort stehen zwei Blondinen mit Moderationskärtchen auf einer zerstörten Großraumbühne. Überall liegt Konfetti. Es scheint vorbei zu sein, die Schlacht ist geschlagen. Aber die Blondinen kündigen noch ein Heidi Klum-Special an, das dem Zuschauer alles über den schillernden Werdegang des deutschen Weltstars verraten soll. Vielleicht gibt es da draußen ja wirklich noch Menschen, die noch nicht genug über sie wissen. Und so erfahre ich zum fünfhundertsten Mal, dass es ein Bikini war, der die zentrale Rolle auf ihrem Weg zum Ruhm spielte. Insgesamt wird Frau Klum hier als genau das präsentiert, wofür sie die Journaille ihres Heimatlandes so verachtet: eine mopsfidele Vermarktungsmaschine mit sehr vielen weißen Zähnen, die sie uns bei jeder passenden Gelegenheit wie eine Waffe entgegenblitzen lässt. In diesem Moment wird mir klar, dass ich gar nichts verpasst habe, die Gewinnerin stand längst fest, sie heißt wie immer: Heidi! Heidi! Heidi! Das ist alles, was ich wissen muss. Die Mission ist erfüllt, die Demütigungen sind überstanden und die Namen der Opfer bereits vergessen. Einmal, es liegt bereits Jahre zurück, da strahlte am Ende der gleichen Veranstaltung so etwas wie Wahrhaftigkeit aus Heidi Klum heraus. Es war spät, wieder war alles voller Konfetti. Sie wurde in eine Kulisse geschoben und vor laufender Kamera gefragt, wo denn ihre Familie sei. Für diesen kurzen Augenblick hörte ihr Gebiss auf zu blitzen und sie sprach: „Die wissen gar nicht genau, was ich hier mache, und das ist eigentlich auch ganz gut so.“

Zähne und Tränen, das sind die wesentlichen Bestandteile dieses bizarren Wettbewerbes, der Rest sind niedere Instinkte, eine niedere Komik und ein noch viele niedereres Vokabular. Worte aus einer anderen Welt, einer Welt ohne Sinn und Grammatik, einem debilen Reich, das sich selbst genügt. Ja, niedrig ist diese Sprache – so niedrig, dass sie nicht einmal mehr am Boden liegt, sondern bereits eingesickert ist in die oberen Erdschichten, wo sie sich mit all dem Konfetti, den Tränen und dem Blut der Opfer vermischt. Aus diesem faulenden und nährreichen Humus wird schon bald wieder neues Leben entstehen.

Filtern im Jenseits

Zwanzig Jahre beim Morddezernat der New Yorker Polizei, Bruder, und du hast alles gesehen. Du hast erlebt, dass ein Wall-Street-Broker seine kleine Zuckerfee in Streifen schneidet, um klarzustellen, wem die Fernbedienung gehört, und dass ein unglücklich verliebter Rabbi Schluss zu machen beschließt, indem er seinen Bart mit Anthrax pudert und tief einatmet.

(Aus „Pure Anarchie“, Woody Allen, 2007)

Die Möglichkeiten, gewaltsam zu Tode zu kommen, sind so vielfältig wie unerfreulich. Fast ebenso vielfältig sind die Möglichkeiten, den Tod Anderer für die eigene Ideologie auszuschlachten. Wer beispielsweise von einem muslimischen Einwanderer am Geldautomaten erstochen wird, dem ist die posthume Solidarität nationalistischer Hooligan-Vereine sicher. Werden Sie dagegen erst in der darauffolgenden solidarischen Straßenschlacht von einem trauernden Neonazi ins Jenseits befördert, so wird sich ganz bestimmt die Antifa Ihrer annehmen, Ihr unsterbliches Antlitz auf T-Shirts drucken und in Ihrem Namen ewige Rache schwören. Sollten Sie stattdessen aber in dem ganzen Gerangel zufällig von einem Wasserwerfer der Polizei überrollt werden, so entscheidet der Facebook-Gerichtshof darüber, welche Seite Ihr Andenken übernehmen wird. Haben Sie in letzter Zeit das Urlaubsfoto der Tante eines AfD-Sympathisanten geliket? Oder vielleicht ein Kuchenrezept von Sophie Passmann? Denken Sie am besten jetzt schon darüber nach, wenn Sie Ihre Beerdigung planen. Wie auch immer Sie sich entscheiden, Ihr Tod wird nicht umsonst gewesen sein. *Herz-Emoji*

Haut und Knochen

Wahrscheinlich haben Sie es schon gehört bzw. gelesen: Zombie Boy ist tot. Über den Tod eines Zombies zu berichten, gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Sommers. Rick Genest, der junge Mann hinter dem untoten Image, hatte offenbar Gründe, sich derart zutätowieren zu lassen. Eine Krankheit, ein Tumor, ein Schicksal … irgendwas ist ja immer. Tätowierungen sind (zumindest dort, wo sie nicht sowieso schon Teil einer kulturellen Tradition waren) traditionell das Markenzeichen der Outlaws, der wilden Jungs, die den anderen beweisen wollten, was für ein schweres Leben sie hatten.

Heutzutage funktioniert das natürlich nicht mehr so richtig, denn die halbe Bevölkerung ist mittlerweile zugekritzelt. Schön ist das in den seltensten Fällen. Was früher vielleicht noch als Geschmacksverfehlung gnädig in den eigenen vier Wänden verborgen blieb, wird heute stolz auf der Haut getragen. Die eigene Epidermis ist für viele Menschen Leinwand, Tagebuch und öffentliches Familienalbum zugleich. Und was nicht mehr auf die Arschbacken oder zwischen die Schulterblätter passt, das wird dann bei Facebook reingekippt. Hauptsache es wird sichtbar. Zombie Boy hatte es geschafft, sich davon abzuheben, denn er hatte ein überzeugendes ästhetisches Konzept. Indem er die eigene Anatomie konsequent nach außen drehte, karikierte er auch den Exhibitionismus seiner Mitmenschen. Das war gut gemacht und auf diese spezielle Art schön anzusehen. Er war quasi ein wandelndes radioaktiv verstrahltes Gunther-von-Hagens-Testimonial, das selbst auf einer Tattoo-Messe noch auffallen konnte. Aber wie fühlt sich das wohl an, jeden Tag einen Totenkopf im Spiegel zu erblicken? Erinnert einen das an die eigene Sterblichkeit? Verliert man darüber irgendwann den Verstand? Jetzt ist es leider zu spät, ihn zu fragen. Es sei denn, er kehrt tatsächlich noch mal von den Toten zurück.

Seine Bekanntheit verdankte der Zombie Boy vor allem dem Stylisten und Moderedakteur Nicola Formichetti, der seinerseits Berühmtheit dadurch erlangte, Lady GaGa in einen Alien verwandelt zu haben. Formichetti war nicht der Erste, der stark tätowierte Models buchte, aber mit Zombie Boy hatte er wohl den Hauptgewinn gemacht, zumindest für ein bis zwei Saisons. Mehr kann man in der Modebranche nicht erwarten. Sie haben dort schon alles durch: Heroin-Chic, Nazi-Chic, Alien-Chic und nun eben auch Zombie-Chic. In Robert Altmans Film „Prêt-à-Porter“ wurde dieser Hang zu kalkulierten Schock-Effekten einst auf die Schippe genommen, als die Models dort auf einer der Schauen komplett nackt auf den Laufsteg geschickt wurden. Sie würden mittlerweile aber auch Skelette buchen, wenn das möglich wäre. Nicht einfach mehr nur unterernährte Teenager, keine Haut und Knochen, nein, nur noch Knochen. Wie das in etwa aussehen könnte, hat ihnen Zombie Boy zumindest schon mal gezeigt.

Female Trouble

Es war eine dieser Dinner Parties, wie sie in fast jeder Folge stattfinden. Die Frauen kamen zusammen, begrüßten sich überschwänglich, Bussi links, Bussi rechts, sie tranken ein paar Gläser eisgekühlten Pinot Grigio und plauderten. Ein Drehbuch brauchten sie nicht, denn die Dynamik ihrer Zusammenkunft würde von ganz alleine dazu führen, dass die Stimmung nach nur wenigen Minuten dramatisch kippt. Es würde eine Konfrontation geben, keine Frage. Mindestens zwei der Frauen würden dann hysterisch herumschreien, sich gegenseitig ihre Drinks ins Gesicht kippen und wutentbrannt die Szene verlassen. Tränen, Close-Ups und … Cut!

Andy Cohen kommt in die Hölle. Zumindest wenn es nach den Tugendwächtern gediegener Unterhaltungskultur geht. Ich mag Andy Cohen, aber ich komme ja selbst auch in die Hölle. Andy ist ein kleiner Junge Ende vierzig, der sich im Süßwarenladen der US-amerikanischen Medienlandschaft reich und zufrieden gefuttert hat. Und der darüber immer noch jeden einzelnen Tag abwechselnd staunen und hysterisch kichern kann. Andy Cohen ist Produzent, TV- und Radio-Moderator, Autor und Society-Luder  – ein Hans Dampf in allen glitzernden Gassen. In New York ist er der Nachbar von Sally Field, der beste Freund von Sarah Jessica Parker und Anderson Cooper sowie überhaupt mit allem bekannt und vernetzt, was Rang, Namen und mindestens drei Platin American Express-Kärtchen besitzt. Vor allem aber ist er der Mastermind hinter den Real Housewives of (New York, Beverly Hills, Atlanta uws. – sie breiten sich aus wie Metastasen) … Dingenskirchen, einem der erfolgreichsten Reality-Trash-Programme der letzten Jahre. Das Rezept ähnelt dem vergleichbarer Formate: ein Haufen Wahnsinniger macht sich vor der Kamera zum Affen. Im Fall der Housewives-Serien ist das eine Gruppe überspannter Luxusweiber, die sich mit künstlich inszenierten Dramen gegenseitig durch die Gegend mobbt. Es ist wie auf dem Schulhof eines sozialen Problembezirkes. Nur dreißig Jahre später, mit jeder Menge Bling, Botox und Xanax. Aber es funktioniert. Einige der Housewives haben durch diese Sendung bereits sehr lukrative Medienkarrieren hingelegt. Damit ist eigentlich alles gesagt. Sollten Sie noch nichts von diesem Elend dieser faszinierenden Welt gehört haben und sich vielleicht gerade ein wenig von den französischen Präsidentschaftswahlen ablenken wollen (und auf diesem Wege gleich noch gratis ein paar Gehirnzellen verlieren wollen), dann schauen Sie doch mal hier.

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See you in Hell, Andy! (Quelle: instagram.com/bravoandy)

Was hatte ich erwartet? Nur weil Freundin X mir wieder einmal – ganz ehrlich und ganz im Vertrauen – erzählt hatte, wie kaputt das Leben von Freundin Y ist, was das für eine überspannte Ziege sei, wie die ihren Mann betrügt und er sie natürlich auch, dass sie über ihre Verhältnisse lebt, ihre Kinder nicht richtig erzieht, schwer alkoholabhängig ist und sicher bald in der Psychiatrie landen wird, heißt das noch lange nicht, dass X und Y nicht die allerbesten Freundinnen sind und immer füreinander da sein werden. Natürlich. So funktionieren Frauenfreundschaften. Zumindest einige. Glauben Sie mir, ich habe es erlebt. Die Housewives sind real und sie sind überall. Zum Wohl!

Sie sind hieeer!

Im nördlichen Friedrichshain, in einem Teil meines alten Kindheits-Kiezes, wurde in dieser Woche ein Massengrab ausgehoben. Nur ein paar hundert Meter von der Wohnung meiner Eltern entfernt, dort, wo wir manchmal Sportunterricht hatten, haben sie nun 4.000 Skelette ausgebuddelt. Es sind offenbar die anonymen Opfer einer Cholera-Epidemie, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin ausbrach. Grund für die Buddelei ist natürlich der anhaltende Bauboom. Wir erinnern uns an Spielbergs „Poltergeist“: wurde dort nicht auch eine Eigenheimsiedlung auf einem ehemaligen Friedhof errichtet? Die Familie der kleinen Carol Anne wurde daraufhin heftigst und mit vielen Spezialeffekten bespukt, fliegende Möbel und aggressives Spielzeug inklusive, bis schließlich eine zwergenhafte Exorzistin (die ein wenig aussah wie meine alte Schuldirektorin) ausrief „Dieses Haus ist gereinigt!“ Was natürlich nicht stimmte. Nichts war gereinigt. Dennoch meine Frage: Suchen Sie gerade nach einer beruflichen Neuorientierung? Spielen Sie vielleicht mit dem Gedanken, sich selbständig zu machen? Dann eröffnen Sie doch eine Agentur für Geisteraustreibung und Hexenkunst im Friedrichshain! Die jungen Familien, die demnächst über den ehemaligen Seuchengräbern einziehen, werden Ihre Hilfe sicher brauchen. Spätestens wenn sich mitten in der Nacht das IKEA-Mobiliar selbständig macht, während der kleine Thorben-Jakob in sein iPhone starrt und wie irre „Sie sind hieeer!“ singt, wird Ihr Auftragsbuch voll sein. Man muss nur die richtige Idee zur richtigen Zeit haben. Das Geld liegt auf der Straße bzw. direkt darunter.

Hatte ich etwa ein Messer in Sibirien?

Es gibt diese Szene in der ersten „Jack Reacher“-Verfilmung, in der Werner Herzog als sadistischer Gangsterboss einen seiner Lakaien dazu zwingt, sich die eigenen Finger abzubeißen. Eine seltsam beeindruckende Szene ist das. Es geht um einen Loyalitätsbeweis dem Boss gegenüber, und natürlich geht es um Bestrafung. Dazu wispert The Mighty Herzog einen dramatischen Monolog über seine harten Jahre in einem sibirischen Gulag. Er habe dort nur überlebt, in dem er seine eigenen Hände qualvoll verstümmelte. Während er diese Geschichte erzählt, steht im Hintergrund ein weiterer Befehlsempfänger mit einer Knarre bereit, um die Dringlichkeit des Ganzen zu untermauern. Als der wimmernde Lakai schließlich begreift, was von ihm erwartet wird, als ihm die Aussichtslosigkeit seiner Lage bewusst wird und er seinen Boss um ein Messer bittet, erwidert dieser nur kühl: „Hatte ich etwa ein Messer in Sibirien?“ Was folgt, ist klar. Unter lautem Geschrei versucht der arme Kerl, sich die Finger abzuknabbern. Am Ende wird er trotzdem erschossen.

Was lernen wir daraus? Vorsicht ist geboten bei der Wahl der Arbeitsstelle! Ich selbst war noch nie in Sibirien, geschweige denn in einem Gulag, und habe bis jetzt auch noch alle meine Finger. Ich tippe diesen Text zwischen zwei Projekten, einem gut bezahlten und einem eher unbezahlten. Ich teile mir meine Zeit selbst ein. Niemand redet mir rein und niemand hält mir eine Knarre an den Kopf. Ich komme, ich gehe, ich arbeite, wann es mir beliebt. Weil ich es kann. Weil ich mir das nun mal herausnehme. Weil ich das schon immer so gemacht habe. Das ist kein Luxus, das ist meine Entscheidung. Das Geld kommt, das Geld geht, und dann kommt es wieder. Es ist nur Geld. Wenn ich genug habe, verteile ich etwas. Wenn nicht, wird später gezahlt. Das gilt für den Online-Versand ebenso wie für das Finanzamt. Mit Arbeit wird sowieso niemand reich. Reich wird man, indem man das Geld für sich arbeiten lässt, das sollte doch bekannt sein.

Weshalb schreibe ich das? Ich habe es endgültig satt, mir das Gejammer anderer Menschen über ihre ach so grimmige Arbeitswelt anzuhören. Oder darüber zu lesen. Darüber, wie furchtbar gestresst sie sind. Darüber, dass die Arbeit sie auffrisst, dass sie gemobbt werden, dass sie sich ungerecht behandelt fühlen, dass der Arbeitsmarkt immer brutaler wird, man aber nichts dagegen tun kann, weil: wir sitzen ja alle im selben Boot … Bringt euch um! Ich meine das ganz ehrlich und unironisch. Bringt euch um! Oder kündigt. Nein, entschuldigt bitte, kündigen wäre natürlich zu viel verlangt. Also Selbstmord. Es ist November, das liegt gerade wieder im Trend. Fenster auf und raus. Bitte sehr. Nur geht mir bitte nicht mehr auf die Nerven mit eurem Selbstmitleid und dem endlosen Gesabbel darüber, wer an all dem Schuld hat. Der Chef, die Firma, der Markt, der Staat, das System, die Mutti und der Papa, der Freihandel und die UFOs – die „da oben“ sind ja grundsätzlich immer schuld. Sicher, ihr wisst es nicht besser, ihr wurdet so erzogen, konditioniert und klein gehalten, mit einem unbezwingbaren Glauben an das Böse und an die Übermacht der Anderen. Ihr hängt euch Tarantino-Poster ins Zimmer, bloggt über die Revolution und seid doch bis ins Knochenmark zerfressen von kleinbürgerlichen Existenzängsten, Sozialneid und Paranoia. Ich war wirklich sehr geduldig, viele Jahre lang, aber jetzt habe ich genug. Jetzt habe ich es satt, euer Opfergeheul. Ich habe eure permanent behauptete Ausweglosigkeit satt, diese ewige pseudoapokalyptische Eierschaukelei, diesen ganzen verdammten Kindergarten. Ich sitze nicht in eurem Boot. Ich höre nicht mehr hin, ich klicke nicht mehr drauf. Eher kaue ich mir jeden Finger einzeln ab.

Schmerzen, Zumba, Pasta, Wow!

Heute morgen kam mir eine Frau in orangefarbener Funktionskleidung entgegen gehechelt – leuchtend wie eine Wetterboje, bewaffnet mit einem Ungetüm von Kopfhörern, zwei Nordic-Walking-Plastikstöckchen und einem dieser überteuerten Baumkuchen vom Café um die Ecke. Eigentlich konnte ich nur die Papiertüte des Cafés eindeutig erkennen. Aber es wird wohl ein Baumkuchen drin gewesen sein, wegen dem rennen sie dort alle hin. Da hechelte sie also an mir vorbei, eine leuchtende, schwitzende, Baumkuchen-balancierende Selbstoptimierungs-Maschine auf dem Weg in eine ganz sicher minutiös verplante Woche.

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Fast Forward: Hamburg im Spätsommer des Jahres 2095. Der BAUER-Verlag feiert die Veröffentlichung von GERIA, der zehnmillionsten Frauenzeitschrift in der Geschichte des Unternehmens. Stargast des Abends ist die 145-jährige Iris Berben, die auch den Titel der neuen Zeitschrift ziert und aus ihrem Sauerstoffzelt heraus zu den geladenen Gästen spricht. Frau Berben fühlt sich noch immer keinen Tag älter als 65, sie aquajoggt täglich sieben Kilometer, ernährt sich von fair eingeflogenem Plankton, trinkt Rote-Beete-Hyaluron-Hormon-Smoothies und telefoniert jeden Abend mit dem Urenkel vom Dalai Lama. Wichtig für ein erfülltes und aktives Leben, auch jenseits der 120, sei vor allem eine positive Ausstrahlung, sagt sie. Kasteien Sie sich nicht mit Diäten, meine Damen! Schlemmen Sie auch mal! Pasta und Baumkuchen. Aber nicht zu viel. Alles in Maßen! Und mindestens 16 Stunden Schlaf! Und immer schön positiv denken! Und Sauerstoff, sagt sie noch, ganz viel Sauerstoff! *Hechel*

Endlich bewiesen: Mind Control!

Wen halten Sie für die seltsamste und beängstigendste Lebensform auf diesem Planeten? Ihre Nachbarn? Den Bundesverfassungsschutz? Die Geissens? Dann kennen Sie wohlmöglich den Dicrocoelium Dendeiticum noch nicht. Dieser winzige parasitäre Flachwurm hat drei bevorzugte Lebensräume: Kuhfladen, Schneckenschleim und Ameisengehirne. Der Dicrocoelium Dendeiticum kann sich offenbar nur im Körper von Kühen oder Schafen fortpflanzen, was ihn aber nicht daran hindert, eine bizarre Rundreise durch die inneren Organe anderer Spezies zurückzulegen. Die Eier des Parasiten verlassen die Kuh oder das Schaf über deren Exkremente und werden dann von Schnecken gefressen. Die Schnecken schleppen den Wurm dann eine Weile mit sich herum, bevor sie ihn über ihren Schleim wieder ausscheiden. Der Schneckenschleim wiederum wird von Ameisen gefressen und jetzt wird es gruselig: jeweils nur einer der Parasiten wandert als Auserwählter in das Gehirn der Ameise und zwingt sie zu einer Selbstmord-Mission. Die Bewegungen der Ameise werden von diesem Zeitpunkt an zombiehaft durch den Parasiten gesteuert. Sie krabbelt schließlich willenlos bis zur Spitze eines langen Grashalmes und wartet dort so lange, bis sie von einer Kuh oder einem Schaf gefressen wird. In deren Körper fangen die Parasiten dann wieder an sich zu vermehren. Und haben sich bestimmt einiges zu erzählen. Diese Monster!

Schrott (wirrer Monolog über den Frühling)

Das Tauchboot ist verschwunden. In den letzten Wochen hatte es sich am Helgoländer Ufer festgemacht. Menschen habe ich nie darauf gesehen, immer nur dieses leere Boot. Zwischendurch hatte sich ein kleinerer Kollege, ein Munitions-Tauchboot dazu gesellt, ebenfalls ohne Besatzung. Munition? Eines haben die unsichtbaren Taucher jedenfalls geborgen: ein Knäuel ineinander verkeilter verrosteter Fahrräder und Einkaufswagen, markiert wie ein Tatort mit einem rotweißem Absperrband. Wichtige Beweise menschlichen Treibens, die der Fluss nicht behalten durfte. Gestern habe ich eine verwitterte Gestalt gesehen, in einer schmutzigen alten Lederjacke, auf der „Wixen gegen Nazis“ stand. Die Gestalt hat ein Foto von dem Schrotthaufen gemacht, mit einem ebenfalls recht verwitterten Smartphone. Ein hübsches apokalyptisches Szenenbild war das: ein Zombie, der einen Haufen Schrott instagramt. Der Aufstand beginnt als Spaziergang.

Vor dem Hauseingang hat jemand eine Pappkiste mit zwei alten Handtüchern und einer Klobürste abgestellt, davor ein Schild: „Zum Mitnehmen!“. Ja, eine Klobürste. Zum Mitnehmen. Im gleichen Maße wie das Sammeln von Pfandflaschen zum prekären Volkssport geworden ist, häuft sich der auf der Straße abgestellte Plunder derer, die zu faul sind, bis zur nächsten Mülltonne zu laufen. Ein kleines Pappschild davor, „Zum Mitnehmen!“, und fertig ist die Sharing Economy. Teilen! Teilen! Teilen! Mit der alten Klobürste des Nachbarn den Weltuntergang aufhalten! Meistens erbarmt sich ein Hausmeister und entsorgt das Zeug im Restmüll des Hinterhofes. Selbst in dieser zermüllten Stadt herrscht eine gewisse Ordnung. Rostige Fahrradhaufen werden vorschriftsmäßig abgesperrt und der Abfall wird entsorgt. Ja, irgendwann (jetzt kommt’s) werden auch wir entsorgt. Die Natur wartet auf unser Verschwinden, sie sammelt unseren Schrott und unsere Daten. Ich stelle mir vor, wie das Internet uns überleben wird (über einen atomsicheren, sich selbst speisenden Server) und all die instagramten Ansichten zerstörter Landschaften und gebrauchter Klobürsten an die Außerirdischen verkauft. Der Planet ist dann längst umbenannt in „Google Earth“.

Bis dahin lese ich Heiner Müllers Hamletmaschine*, das schönste deutsche Frühlingsgedicht, das ich kenne. Ich erfreue mich an den zwitschernden Vögeln, am präparierten Geschwätz und am verordneten Frohsinn. Wie schön die Menschen sind! Und alle elf Minuten verliebt sich ein Single mit PARSHIP. Idioten. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod! Ich bin der Dichter. Ich stehe an der Spree und spreche mit den Wellen … BLABLA!

Ophelia

* … Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten, Soldaten, Panzer, Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter der Glastür steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich, Schaum vor meinem Mund, meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm, mein Kopf ist leer unter dem Helm, der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die Schreibmaschine.