So, meine Lieben, es ist soweit: ich mache den Laden dicht. Zumindest für die nächsten zwölf Monate. In genau einem Jahr, am 7. Januar 2023, werde ich noch einmal hier vorbeischauen und dann auch entscheiden, ob ich die Radikale Heiterkeit weiterführen werde. Was wird sich bis dahin geändert haben, da draußen, in der Welt, an der „Lage“? Wird da wohlmöglich etwas implodieren – mal abgesehen von den Nervensystemen jener, die immer noch glauben, mir sinnlose Vorschriften machen zu können? Wird der fünfhundertste Coronny-Sprößling nach dem zweiundvierzigsten Booster im Hirn von Karl Lauterbach zu einem neuartigen Turbohusten mutieren und die Menschheit endgültig ausradieren? Wird das noch interessieren? Wird dann überhaupt noch jemand einen Unterschied bemerken? Meine persönliche Wahrsagerin Ludmilla Kannstemalwiedersehnowa riet mir zum Anfang des Jahres, mich warm anzuziehen. Kann aber auch am Wetter liegen.
Bussi!
Sent from my iBunker
Give me crack and anal sex Take the only tree that’s left And stuff it up the hole in your culture Give me back the Berlin wall Give me Stalin and St. Paul I’ve seen the future, brother, it is murder
Zehn Monate sind vergangen und noch immer ist es wahrscheinlicher, an den herkömmlichen Todesursachen einzugehen als an … Na, Sie wissen schon, dem C-Wort. Alles andere ist Public Relations – Storytelling für unterschiedliche Zielgruppen: verunsicherte Hausfrauen, aufgekratzte Blogger, autoritätsbesoffene Oberlehrer, Politfunktionäre, Paranoiker oder Wutbürger. Irgendwo dazwischen dürfen Sie sich einordnen, ansonsten bleiben Sie draußen. Eines habe ich in diesem Jahr mal wieder gelernt: Angst ist oberste Bürgerpflicht. Oder soll ich statt Angst besser Vorsicht sagen? Nein, ich sage Angst. Sie dürfen Angst um Ihre Gesundheit haben, Angst vor Ihren Mitmenschen, Angst vor den Russen, vor den Amerikanern, vor Bill Gates und der eigenen Regierung, oder einfach Angst vor dem Tod. Aber einfach so angstfrei vor sich hin leben? Das ist unverantwortlich, anarchistisch, geisteskrank. Denken Sie doch an die Zukunft, an die Sicherheit, an die Kinder! Angst ist der Motor der Gesellschaft. Dazu passend habe ich in diesem Jahr noch etwas gelernt: Das Leben der meisten Menschen ist in einem monströsen Maße fremdbestimmt. Diese Erkenntnis allein ist natürlich nicht neu, aber 2020 war quasi der Lackmustest dafür.
Das Experiment: Nimm den Menschen die tägliche Fuchtel ihres Angestellten-Daseins, verfrachte sie in ihre Behausungen und schau ihnen beim Durchdrehen zu. Wenn denen niemand mehr vorschreibt, wo sie zu einer bestimmten Uhrzeit antreten müssen und was sie dort zu erledigen haben, bleibt nicht mehr viel übrig. Kein Plan, kein Sinn, keine Ahnung von der eigenen Existenz. Um ihr Überleben müssen die meisten von ihnen nicht mehr kämpfen, dazu sind sie bereits zu gut versorgt, vom Arbeitgeber oder vom Staat. Also walzen sie ihre Freizeitaktivitäten aus, all die kleinen Flucht- und Ablenkungs-Übungen, die sie sonst zum Zweck der Energie-Aufladung sorgsam auf die Abendstunden und auf’s Wochenende verlegt haben. Sie joggen mehr, sie backen mehr, sie saufen mehr, sie ficken mehr und sie glotzen mehr auf Bildschirme als sonst. Vielleicht lernen sie auch stricken oder lassen sich online zum Youtuber ausbilden. Reisen fällt ja leider aus. Irgendwann funktioniert das alles aber nicht mehr, dann drehen die ersten durch, hören Stimmen, verwahrlosen oder verprügeln ihre Familien. Wie zu hören war, ist die häusliche Gewalt während der letzten Monate sprunghaft angestiegen. Fun Fact: wenn Ihr Partner Sie während eines Lockdowns verprügelt, liegt das nicht am Lockdown, sondern daran, dass Sie sich mit einem gewalttätigen Menschen eingelassen haben, der bisher nur nicht ausreichend Tagesfreizeit zur Ausübung der Gewalt hatte. Ein Tag hat nun mal nicht mehr als 24 Stunden.
Ab morgen werde ich dieses Thema hier abgehakt haben. Gerne dürfen die an verantwortlicher Stelle auch noch eine dritte, vierte oder fünfhundertste Virus-Welle ausrufen, nach noch mehr Einschränkungen, Bevormundungen und Gängelungen rufen, alternativ auch nach dem Sturz von Merkel, Spahn und Biden, und natürlich nach der Weltrevolution. Bei mir ist die Sache durch, sowohl medial als auch mental. Denn ich habe ganz sicher nicht vor, an Langeweile zu sterben.
Ich beobachte, wie sie bedächtig jede Frucht und jede Knolle einzeln auf das Laufband legt. Solche Leute sehe ich beim Einkaufen jetzt immer öfter: radikale Verpackungsvermeider. Kein Plastik, keine Folie, kein Papier. Und nach der Bezahlung stopfen sie dann auch alles einzeln und unverpackt in ihre verfilzten Rucksäcke. Man kennt das aus den Bioläden, jetzt ist es auch bei den großen Discountern üblich. Sie haben die Leute also nicht umsonst mit ihren grünen Wohlfühl-Kampagnen zugedröhnt. REWE ist nachhaltig, EDEKA ist Bio, LIDL spendet für Pandabären und Nena rettet den Planeten mit Möhrchen von PENNY. Jetzt fühlen sie sich also auch hier zuhause. Und sie wollen sich nicht daran mitschuldig machen, wenn irgendwo ein Delfinbaby an einer deutschen Gemüseverpackung erstickt. Also rollt auch die Dame vor mir ein Tomätchen, drei Radieschen, ein Petersilien-Strunk und noch ein paar dreckige Kartoffeln über das Band, und ich stelle mir vor (irgendwie muss ich die Wartezeit ja überbrücken), wie sie vorhin vielleicht noch kräftig in der Nase gebohrt hat und hier gerade mehr Krankheiten verteilt als die berühmte Kloschüssel aus Trainspotting (The Worst Toilet in Scotland, remember?) … In Zeiten der allgemeinen Virenpanik ein unterhaltsamer Gedanke. Ist die Ausrottung der menschlichen Rasse schlussendlich nicht auch der konsequenteste Umweltschutz? Später wird die Kassiererin ihr Warenband großflächig mit Chemikalien säubern und die Reste in einer Plastiktüte entsorgen. Aber da ist die Gemüseschubserin längst über alle Berge, überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Unterwegs wird sie sich vielleicht noch mit einem Coffee-To-Go stärken, natürlich nur aus fairen, per Esel herangekarrten Genossenschafts-Bohnen und ohne Becher. Sie wird sich den Kaffee frisch in den offenen Mund gießen lassen. So wird sie dann das mit veganer Mandelmilch gestreckte Gesöff gurgeln, während sie eine große Zucchini auf dem Kopf balanciert (der Rucksack ist bereits voll) und auf ihrem in der nachbarschaftlichen Kolchose liebevoll reparierten Second-Hand-Fahrrad in den Sonnenuntergang schlingert – nachhaltig, keine Spuren hinterlassend, sich selbst langsam auslöschend im dunkler werdenden Horizont.
Zwei große Stimmen sind verstorben. Karel, der Goldene aus Prag und kurz zuvor Jessye, die Göttliche aus Augusta, Georgia. Nein, ich möchte nicht, dass die beiden in Frieden ruhen. Sie sollen bitte weiter trällern, schmettern und jubilieren, irgendwo da draußen, wo ständig Götter sterben und wieder neue geboren werden. Sie merken, ich fühle mich heute ziemlich erhaben, vielleicht sogar geläutert. OMG! Und so verschwende ich auch nicht viele Worte, sondern mache die Bühne frei für eine der großartigsten Sanges-Diven aller Zeiten, Jessye Norman. Es war mir eine Wonne …
Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen Und man fragt: Was ist das für ein Geschrei? Und man wird uns lächeln sehn bei unsren Gläsern Und man sagt: Was lächeln die dabei? …*
Freitagnachmittag am Spreeufer. Wenige Schritte vom Berliner Ensemble entfernt, lebt der Geist von Bertolt Brecht auf einer Karte weiter, die über 50 einheimische Weißweine aufführt. Brechts Steakhaus müsste eigentlich Brechts Rieslinghaus heißen. Auf Nachfrage empfiehlt uns der pfiffige Kellner einen der billigsten, denn „den trink ick ooch immer jerne!“. Wir vertrauen dem guten Mann sofort, bestellen davon gleich zwei Flaschen, dazu nur eine kleine Käseplatte, und empfehlen uns somit als Alkoholiker alter Schule. Der Stoff ist auch auch dringend nötig, denn der Großteil der übrigen Gäste besteht, wie an dieser Ecke nicht anders zu erwarten, aus einem grauenhaft gekleideten Touri-Pöbel. Zweihundert Meter weiter nördlich geht es visuell nicht ganz so barbarisch zu. Die Arbeitsbienen aus den Büros der Reinhard- und Schumannstraße, die ich kurz zuvor hinter mir gelassen hatte, diese ganzen Pitcher und Pusher, Coder und Kicker, Mover und Shaker, Lobbyisten und Strategen, die flitzen noch in halbwegs akzeptablen Klamotten durch die Gegend. Aber hier unten am Ufer sind die Leinen los, hier ist die große internationale Mutanten-Fiesta in vollem Gange. Speckschwarten quellen unter knappen Freizeitfetzen hervor. Man möchte spontan erblinden oder sich zwei ultrastarke Sonnenbrillen übereinander aufsetzen. Berlin lebt von diesem hässlichen Mob, die Pitcher und Pusher bringen wohl noch nicht genug rein. Watt soll man machen, wa, Prost, runter mit dem Zeuch, denn den trinkt der Kellner ooch immer jerne! Ich werde angerufen, in Moabit gab es eine Schießerei, überall Polizei, Großfahndung, ich soll die Turmstraße möglichst meiden. Der Täter floh auf einem Fahrrad. Auf einem Fahrrad. Wer möchte denn von einem Fahrradfahrer erschossen werden? Auf der Flucht hat er wahrscheinlich noch Pfandflaschen zurückgebracht. Diese Stadt ist wirklich das letzte.
Zwanzig Jahre beim Morddezernat der New Yorker Polizei, Bruder, und du hast alles gesehen. Du hast erlebt, dass ein Wall-Street-Broker seine kleine Zuckerfee in Streifen schneidet, um klarzustellen, wem die Fernbedienung gehört, und dass ein unglücklich verliebter Rabbi Schluss zu machen beschließt, indem er seinen Bart mit Anthrax pudert und tief einatmet.
(Aus „Pure Anarchie“, Woody Allen, 2007)
Die Möglichkeiten, gewaltsam zu Tode zu kommen, sind so vielfältig wie unerfreulich. Fast ebenso vielfältig sind die Möglichkeiten, den Tod Anderer für die eigene Ideologie auszuschlachten. Wer beispielsweise von einem muslimischen Einwanderer am Geldautomaten erstochen wird, dem ist die posthume Solidarität nationalistischer Hooligan-Vereine sicher. Werden Sie dagegen erst in der darauffolgenden solidarischen Straßenschlacht von einem trauernden Neonazi ins Jenseits befördert, so wird sich ganz bestimmt die Antifa Ihrer annehmen, Ihr unsterbliches Antlitz auf T-Shirts drucken und in Ihrem Namen ewige Rache schwören. Sollten Sie stattdessen aber in dem ganzen Gerangel zufällig von einem Wasserwerfer der Polizei überrollt werden, so entscheidet der Facebook-Gerichtshof darüber, welche Seite Ihr Andenken übernehmen wird. Haben Sie in letzter Zeit das Urlaubsfoto der Tante eines AfD-Sympathisanten geliket? Oder vielleicht ein Kuchenrezept von Sophie Passmann? Denken Sie am besten jetzt schon darüber nach, wenn Sie Ihre Beerdigung planen. Wie auch immer Sie sich entscheiden, Ihr Tod wird nicht umsonst gewesen sein. *Herz-Emoji*
Wahrscheinlich haben Sie es schon gehört bzw. gelesen: Zombie Boy ist tot. Über den Tod eines Zombies zu berichten, gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Sommers. Rick Genest, der junge Mann hinter dem untoten Image, hatte offenbar Gründe, sich derart zutätowieren zu lassen. Eine Krankheit, ein Tumor, ein Schicksal … irgendwas ist ja immer. Tätowierungen sind (zumindest dort, wo sie nicht sowieso schon Teil einer kulturellen Tradition waren) traditionell das Markenzeichen der Outlaws, der wilden Jungs, die den anderen beweisen wollten, was für ein schweres Leben sie hatten.
Heutzutage funktioniert das natürlich nicht mehr so richtig, denn die halbe Bevölkerung ist mittlerweile zugekritzelt. Schön ist das in den seltensten Fällen. Was früher vielleicht noch als Geschmacksverfehlung gnädig in den eigenen vier Wänden verborgen blieb, wird heute stolz auf der Haut getragen. Die eigene Epidermis ist für viele Menschen Leinwand, Tagebuch und öffentliches Familienalbum zugleich. Und was nicht mehr auf die Arschbacken oder zwischen die Schulterblätter passt, das wird dann bei Facebook reingekippt. Hauptsache es wird sichtbar. Zombie Boy hatte es geschafft, sich davon abzuheben, denn er hatte ein überzeugendes ästhetisches Konzept. Indem er die eigene Anatomie konsequent nach außen drehte, karikierte er auch den Exhibitionismus seiner Mitmenschen. Das war gut gemacht und auf diese spezielle Art schön anzusehen. Er war quasi ein wandelndes radioaktiv verstrahltes Gunther-von-Hagens-Testimonial, das selbst auf einer Tattoo-Messe noch auffallen konnte. Aber wie fühlt sich das wohl an, jeden Tag einen Totenkopf im Spiegel zu erblicken? Erinnert einen das an die eigene Sterblichkeit? Verliert man darüber irgendwann den Verstand? Jetzt ist es leider zu spät, ihn zu fragen. Es sei denn, er kehrt tatsächlich noch mal von den Toten zurück.
Seine Bekanntheit verdankte der Zombie Boy vor allem dem Stylisten und Moderedakteur Nicola Formichetti, der seinerseits Berühmtheit dadurch erlangte, Lady GaGa in einen Alien verwandelt zu haben. Formichetti war nicht der Erste, der stark tätowierte Models buchte, aber mit Zombie Boy hatte er wohl den Hauptgewinn gemacht, zumindest für ein bis zwei Saisons. Mehr kann man in der Modebranche nicht erwarten. Sie haben dort schon alles durch: Heroin-Chic, Nazi-Chic, Alien-Chic und nun eben auch Zombie-Chic. In Robert Altmans Film „Prêt-à-Porter“ wurde dieser Hang zu kalkulierten Schock-Effekten einst auf die Schippe genommen, als die Models dort auf einer der Schauen komplett nackt auf den Laufsteg geschickt wurden. Sie würden mittlerweile aber auch Skelette buchen, wenn das möglich wäre. Nicht einfach mehr nur unterernährte Teenager, keine Haut und Knochen, nein, nur noch Knochen. Wie das in etwa aussehen könnte, hat ihnen Zombie Boy zumindest schon mal gezeigt.
„It’s very difficult to keep the line between the past and the present. You know what I mean?“ (Little Edie)
Es war wohl das gleichnamige Lied von Rufus Wainwright, das mich vor einigen Jahren dem Kult um „Grey Gardens“ näher brachte. Davor hatte ich bereits Fotos von dieser seltsamen Frau gesehen. Gekleidet in einen alten Pelzmantel, das Gesicht von einem dieser engen Kopftücher eingerahmt, die zu ihrem Markenzeichen werden sollten – so stand sie, die einstige Schönheit, inmitten ihres verwilderten Gartens und schaute traurig in die Kamera. Im Hintergrund die legendäre Ruine in East Hampton, ihr Zuhause, das sie sich mit ihrer Mutter, mehreren dutzend Katzen und mitunter auch einigen Waschbären teilte. Wenn ich für etwas eine Schwäche habe, neben der Musik von Rufus Wainwright, dann für alte Villen und für exzentrische Persönlichkeiten. Wie hätte ich mich da dem Zauber von Little Edie und ihrer glanzvollen Biographie entziehen können? Wer ihre Geschichte noch nicht kennt, kann sie unter anderem hier zusammengefasst nachlesen oder sich direkt auf „Grey Gardens“ einlassen, den vielleicht faszinierendsten Dokumentarfilm, der jemals gedreht wurde. Edith Bouvier Beale, geboren am 7. November 1917, wäre heute einhundert Jahre alt geworden.
“I’ve been a subterranean prisoner here for twenty years. If you only knew how I’ve loathed East Hampton, but I love Mother … they must have found out how I hated this house. They must have heard my scream.” („The Secret of Grey Gardens“, New York Magazine, 1972)
Wolfgang Bosbach galt lange Zeit als prominentester Lobbyist der deutschen Toupet-Industrie. Natürlich handelte es sich dabei um eine üble Hetzkampagne des politischen Gegners, denn Bosbach beteuert bis heute, kein Haarteil zu tragen. Er sieht halt nur so aus. Hinter den Gerüchten könnte aber auch sein parteiinterner jüngerer Widersacher Peter Tauber stecken – ein selbstbewusster Glatzenträger, der im Bereich Mobbing immerhin schon einige Erfahrungen sammeln konnte. Wolfgang Bosbach erlangte zum Ende seiner politischen Karriere noch einmal kurzzeitig Berühmtheit, indem er empört aus einem Fernseh-Studio lief. Nach eigenen Angaben möchte er später einmal auf seinem Grabstein folgendes Zitat von Reinhard Mey eingemeißelt haben: „Hier liegt einer, der nicht gerne, aber der zufrieden ging“ … Ganze 23 Jahre hat Bosbach im Bundestag gesessen. Damit hat er nicht ganz so lange ausgehalten wie Frank Castorf an der Berliner Volksbühne, beide Herren aber eint eine ihrem Alter unwürdige Frisur. Liebe Männer über 40: Wenn das Haar dünner und grauer wird, und das wird es in den meisten Fällen nun mal, sollte man es abrasieren lassen oder zumindest kurz tragen. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!
Ich selbst gehe mit gutem Beispiel voran und trage seit Jahren nur noch eine sauber geraspelte Kurzhaar-Frisur, dafür sorgt mein arabischer Friseur alle paar Wochen. In meiner Jugendzeit aber habe ich einiges ausprobiert: lange Haare, kurze Haare, Glatze. Auch eine orange-farbene Phase gab es: eigentlich wollte ich mir damals aus einer Urlaubslaune heraus die Haare wassserstoffblond färben – es waren die 90er – da ich aber einem alten Geschlecht turkmenischer Viehzüchter entstamme, waren meine Haare derart schwarz, dass sie sich maximal zu einem bräunlichen Orange bleichen ließen. Praktisch jeder Mensch östlich des Bosporus kennt das Problem. Daher soll auf meinem Grabstein dereinst der Text von Lady Gagas Hair eingraviert werden. Für den Fall, dass ich es nicht schaffe, noch rechtzeitig einen Notar aufzusuchen, bitte ich einen meiner mich überlebenden und gutmeinenden Leser darum, diesen Blogbeitrag auszudrucken und als Testament-Ersatz entsprechend zu verwenden. Ich danke im Voraus. Sollte sich allerdings jemand einen Scherz erlauben und mich stattdessen unter einem Zitat von Reinhard Mey oder Peter Tauber beerdigen lassen, so werde ich unverzüglich auferstehen und den Verantwortlichen bis in seinen sicher eintretenden Wahnsinn heimsuchen.
„Aber ist es nicht wahrscheinlich, dass jeder, der auf dieser Welt etwas zählt (…) auf dem Weg nach oben den ein oder anderen Menschen umgebracht hat? Wenn man nur genug Leute umbringt, dann errichten sie einem Bronzedenkmäler neben dem Parlament in Delhi – aber das wäre Ruhm, und danach strebe ich nicht. Ich wollte nur die Chance, ein Mensch zu sein – und dafür reichte ein Mord.“
Ich hatte dieses Buch bereits vor Jahren geschenkt bekommen. Seitdem ist es immer wieder durch diverse Regale gewandert, ohne dass ich mich zur Lektüre durchringen konnte. Weshalb eigentlich? Vielleicht interessierte mich Indien einfach nicht genug. Obwohl die Inder und Chinesen doch spätestens in zehn Jahren endgültig das Ruder auf diesem Planeten übernehmen werden (erste Entscheidung im neuen Jahr: Hindi oder Mandarin lernen?) Vielleicht hatte ich auch einfach schon genug Reiseberichte von überspannten Damen gehört, die stets mit einem Haufen Eso-Tinnef, bunten Fotoserien, nervtötenden Weisheiten sowie mit Beschreibungen monströser Durchfallerkrankungen zurückkehrten. Eat, Pray, Diarrhea … Natürlich war mir klar, dass die auf ihren Selbstfindungs-Trips genauso wenig über Indien gelernt hatten wie ich zuhause beim Streamen eines Bollywood-Musicals. Kurz vor Weihnachten habe ich dann endlich „Der Weiße Tiger“ von Aravind Adiga gelesen. Bin ich jetzt schlauer? Zumindest habe ich mir danach wieder einmal Gedanken darüber gemacht, was es eigentlich bedeutet, ein freier Mensch zu sein. „Der Weiße Tiger“ erzählt die Geschichte eines ungewöhnlichen Aufstieges, irgendwo zwischen „Slumdog Millionaire“ und “So wirst du stinkreich im boomenden Asien“. Die indische Gesellschaft wird hier als ein korrupter Moloch beschrieben, der sich nach außen als größte Demokratie der Welt verkauft, im Innern aber durch eine brutale Hackordnung zusammengehalten wird, in der immer noch die Herkunft über den Wert und das Schicksal eines Menschen entscheidet. Dass der Held in dieser Geschichte am Ende seinen Herren ermordet (das Wort „Boss“ wäre hier wirklich untertrieben und daher fehl am Platz), um sich so aus den Zwängen seiner niederen Geburt zu befreien, ist dabei gar nicht mal das Spannendste. Viel interessanter ist die Frage, warum so etwas nicht viel öfter passiert, und warum sich so unglaublich Viele mit der ihnen zugewiesenen Rolle als Menschen zweiter oder dritter Klasse abzufinden scheinen.
„Dass die Fahrer und Köche in Delhi alle ‚Murder Weekly‘ lesen, muss nicht heißen, dass sie ihren Herren demnächst den Hals durchschneiden. Sie würden natürlich gerne. Selbstverständlich stellen sich Milliarden Diener heimlich vor, wie sie ihre Arbeitgeber erwürgen – darum bringt die indische Regierung ja auch diese Zeitschrift heraus und verkauft sie für nur viereinhalb Rupien auf der Straße, sodass selbst die Armen sie sich leisten können. Es ist nämlich so: Der Mörder in den Geschichten des Blattes ist immer so gestört und sexuell abartig, dass nicht ein Leser sein will wie er — und am Ende wird er immer von irgendeinem ehrlichen, fleißigen Polizisten (ha!) gefasst, oder er wird vollkommen wahnsinnig und erhängt sich mit einer Bettdecke, nachdem er einen gefühligen Brief an seine Mutter oder seinen Grundschullehrer geschrieben hat, oder er wird vom Bruder der Frau, die er umgebracht hat, verfolgt und erwischt, verprügelt und erdrosselt. Wenn also Ihr Fahrer die ‚Murder Weekly‘ durchblättert, entspannen Sie sich. Für Sie besteht keine Gefahr. Ganz im Gegenteil.“
Können Sie sich noch an Truman Burbank aus der „Truman Show“ erinnern? Sobald der auf den Gedanken kam, aus seiner kleinen Welt auszubrechen, schob ihm die Regie alle möglichen Hindernisse in den Weg: plötzlich aufkommende Unwetter, Plakate mit Warnhinweisen zu den Gefahren des Reisens oder wohlmeinende Freunde, die ihn davon überzeugen wollten, dass es daheim doch immer noch am schönsten ist. Am Ende bricht er doch aus, ohne zu wissen was ihn erwartet. Der weiße Tiger dagegen kennt das Ziel seines Ausbruchs ganz genau. Er macht die Schauergeschichten aus „Murder Weekly“ zu seiner eigenen Biographie, ohne sich vor den Konsequenzen zu fürchten. Wer wirklich frei sein will, darf keine Angst haben. Der Hühnerkäfig der sozialen Kontrolle (Familie, Kollegen, Staat usw.) – versuchen Sie mal, daraus auszubrechen. Versuchen Sie es. Nein? Nicht mal ein Versuch? Gestern habe ich mir eine Packung Taschentücher gekauft. Was das mit den erhabenen Gedanken zur Freiheit zu tun hat, fragen Sie? Nun, die Taschentuch-Industrie scheint sich neuerdings auch um weltanschauliche Fragen zu kümmern, denn auf einer Packung steht „Dream Big“, auf einer anderen „Enjoy the little things“. Heutzutage steht so ein Quatsch ja überall drauf. Ist das nicht auch eine subtile Art der Kontrolle – die Menschen mit Affirmationen, Glückskeksen und Kalendersprüchen bei der Stange zu halten? Auf dass sie gerade genug Optimismus zum Weitermachen aufbringen, aber bescheiden genug bleiben, nicht zu viel vom Leben zu erwarten? How about „Stop dreaming!“ and „Enjoy the big things!“ Sollte ich mich demnächst als Entrepreneur in der Drogerie-Branche versuchen, werde ich das auf meine Taschentücher drucken lassen. Und noch ein paar aufmunternde Zitate von Nietzsche, Müller und Joan Rivers („If I ever lose my middle finger, I will have nothing left to say!“) Make Naseputzen great again!
Und jetzt noch flott die obligatorische Neujahrsansprache. Ein mörderisches, brutales Jahr war es, so liest man überall. Eines, in dem man permanent betroffen zu sein hatte und sich gleichzeitig fragen musste, weshalb das Leben eines einzelnen Menschen, z.B. das eines Popstars oder einer ehemaligen Weltraumprinzessin, so viel mehr Aufmerksamkeit erhält als das von zwölf Zerquetschten. Und warum letztere immer noch wichtiger sind als eine halbe Million Kriegsopfer. Die Antwort ist, denke ich, recht simpel: Der eine schrieb „Last Christmas“, die anderen mussten es sich auf dem Weihnachtsmarkt anhören – wahrscheinlich auch noch wenige Sekunden vor ihrem Tod – und der Rest hatte weder für das eine noch für das andere ausreichend Freizeit und Gelegenheit. Die Chancen, ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen, vielleicht sogar eines, in dem man sich Urlaubsreisen leisten kann, Glühwein trinkt und nebenbei ein paar Spenden für die dritte Welt abdrückt – ganz zu schweigen von einer glamourösen, unsterblichen Existenz zwischen Kokainrausch und Klatschpresse – diese Chancen sind ganz offenbar noch immer ungleich verteilt. In diesem Sinne: Goodbye, George, und all ihr anderen. It’s hard to love, there’s so much to hate.