Hat sich jemand da draußen Sorgen um Claas Relotius gemacht? Vielleicht mal ab und zu seinen Namen gegoogelt, um sicher zu gehen, dass er noch nicht aus dem Fenster gehüpft ist? Keine Sorge, Relotius heißt nicht Hingst, der ist psychisch stabil und schreibt wahrscheinlich gerade irgendwo an seinen Memoiren. Und zwischendurch geht er juristisch gegen seinen ehemaligen Kollegen Juan Moreno vor, wegen angeblicher Falschaussagen in dessen Buch „Tausend Zeilen Lüge“. Der selbe Journalist, der ihn beim Lügen erwischte, wird also nun wiederum von ihm beim Lügen erwischt. Das ist so schön, dass konnte ich nicht ganz unerwähnt lassen. SPIEGEL – the gift that keeps on giving. Nächste wahrscheinliche Eskalationsstufen: Moreno verklagt Relotius wegen Rufschädigung, Relotius verklagt Moreno wegen Mobbing, Moreno verklagt sich selbst, Relotius zieht vors Bundesverfassungsgericht, Moreno zieht ins Kloster, Relotius erhält schließlich den Felix-Krull-Preis in Alu für sein Lebenswerk und die Kanzlerin tippt „Fake News“ in die Suchmaschine.
Sascha Lobo kommt nach einem anstrengenden Tag im Internet nach Hause, nimmt sein Irokesen-Toupet ab und fällt in die stylische Retro-Sitzecke. „Hallo Meike!“, begrüßt er seine Frau, die gerade wieder über ihre Befindlichkeiten twittert. „Du, Sascha“, sagt sie „ich erkenne dich nicht mehr.“ „Echt jetzt? Das ist ja interessant.“ „Ja, total. Ich habe das mal gegoogelt, das ist so ein richtiges Syndrom, also eine anerkannte psychische Störung, wenn man seinen eigenen Partner nicht mehr erkennt.“ Lobo setzt kurz sein Toupet wieder auf. „Jetzt besser?“ Meike schüttelt den Kopf. „Da müssen wir mal was zu bloggen.“ „Hab ich schon.“ „Wieviele Zugriffe?“ „2.500.“ „So wenig? Vielleicht kann ich das ja noch im SPIEGEL verwerten: Entfremdung in Zeiten des Populismus – wie toxischer Online-Hass unsere Beziehungen vergiftet!…“ „Ok, und ich blogge dann einfach darüber, wie ich dich beim bloggen beobachte und dich dabei nicht mehr erkenne.“ „I like that. Aber nicht wieder die Pingbacks deaktivieren! Ich geh jetzt mal meine Keynote für morgen zusammen kopieren. Nacht, Schatz!“
Ich gestehe: Ich fand den Lobo mal gut. „Wir nennen es Arbeit“ hieß dieses Buch, das mir damals ein Ex-Freund schenkte und das Lobos Aufstieg zur medialen Speerspitze der „Digitalen Bohéme“ begleitete. Wie lange ist das nun schon wieder her? Im St. Oberholz wurden plötzlich die Fensterplätze knapp und Irokesen-Sascha wurde als Internet-Experte von einer Talkshow zur nächsten gereicht. Sein Narzissmus und die Selbstvermarktung störten mich dabei nicht. Im Gegenteil, darum ging es doch: um das Ende der Privatheit, um die permanente Sichtbarkeit. Irgendwann ging das aber nach hinten los, der einstige Experte war mit dem Internet restlos überfordert und spielt sich heute in den Sozialen Medien vorwiegend als Blockwart auf – zusammen mit Sixtus, Böhmermann und all den anderen selbsternannten Tugendwächtern der Digitalen Republik Deutschland. Inzwischen ist der rote Iro als Meinungsmacher auch längst von einem blauen abgelöst worden, denn Youtuber sind die neuen Blogger – ach was, sie sind sogar die neue APO! Ja, mindestens. Während Sascha und Meike also langsam zu kopfschüttelnden älteren Eminenzen mutieren (der Blogger-Variante von Helmut und Loki Schmidt) hat sich die Generation Emoji längst hinter neue Experten geschart. Die zeigen denen jetzt mal, was eine Harke bzw. eine optimale Meinung ist, ganz locker, flockig und unabhängig, wie das bei den jungen Leuten halt so ist, easy-peasy, yolo, Dude, klick like and subscribe!
Wo ich gerade so abfällig über Blogger blogge: Vielleicht ist einigen meiner Leser ja noch die Episode aus Ricky Gervais’ „Extras“ bekannt, in der Kate Winslet zynisch kommentierte, die beste Möglichkeit einen Oscar zu gewinnen, bestehe immer noch darin, die Hauptrolle in einem Holocaust-Film zu spielen. Kurz darauf erhielt sie dann tatsächlich ihren Oscar für die Rolle der Hanna Schmitz in „Der Vorleser“. Leben imitiert Satire – das soll ja öfter mal vorkommen. Davon inspiriert wurde offenbar auch die umtriebige Marie Sophie Hingst, die sich für ihren Blog gleich eine ganze Holocaust-Familiengeschichte ausdachte und dafür unlängst noch als „Bloggerin des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Wer berühmt werden will, darf halt nicht zimperlich sein. Nun ist der ganze Schwindel aufgeflogen. Ironischerweise machte ausgerechnet der SPIEGEL die Geschichte öffentlich, obwohl man dort ja nicht erst seit dem Dichter-Skandal um Relotius dafür bekannt ist, „Haltungsjournalismus“ und „künstlerischer Freiheit“ einen größeren Stellenwert einzuräumen als nüchternen Fakten. Der Zweck heiligt die Mittel, immer wieder.
P.S. Nachdem ich mich nachträglich noch etwas in die Causa Hingst eingelesen habe, inkl. der öffentlichen #ReadOnMyFake-Gruppentherapie, kann ich feststellen, dass die Dame durchaus das Zeug zu einer Sektenführerin hat. Die wusste offenbar genau, welche Knöpfe sie bei den Medien und ihrer emotional gehirngewaschenen Anhängerschaft drücken musste. Vielleicht haben die es nicht besser verdient. Die Tatsache, dass Hingst u.a. der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ein paar falsche Opfer untergejubelt hat, lügen sich einige ja bereits als mutiges Literaturprojekt zurecht. Oy vey, my dear! Aber aus der Story lässt sich doch bestimmt noch ein ergreifendes Filmdrama stricken, im Stil von „Can you ever forgive me?“ … Wer ruft Kate Winslet an?
Hätte sich die legendäre Erika Fuchs für Disneys „Lustige Taschenbücher“ einen Entenhausener Zeitungsreporter ausdenken müssen, so hätte sie ihn vermutlich Claas Relotius genannt. Sie hätte ihn vielleicht mit einem dubiosen Charakter, jeder Menge Ehrgeiz sowie einer blühenden Fantasie ausgestattet, ihn Journalistenpreise einheimsen und schließlich von Tick, Trick und Track öffentlich bloßstellen lassen. Vielleicht. Hätte es diesen Reporter nicht tatsächlich gegeben. Das traumhafte Zitat in der Headline stammt aus einem seiner preisgekrönten Artikel. Das Interessanteste an dem seit gestern tobenden Scheißesturm um den ehemaligen SPIEGEL-Schreiber Relotius ist gar nicht die Frage, was genau in dessen Texten nun wahr oder frei erfunden war. Interessant ist doch, dass es so lange nicht auffiel. Weil es so gut passte, weil sie dort eben immer so schreiben – ob über traurige Flüchtlingskinder, dumme Trump-Wähler oder ostdeutsche Nazis. Es ist immer die selbe tendenziöse, gefühlige Soße, da hilft auch kein Fact-Checking, das hat Methode. Und deshalb feiert man sich beim SPIEGEL nun für die Enthüllung im eigenen Haus eben mit genau dem selben elaborierten Reportage-Kitsch, der ihnen gerade erst das Genick gebrochen hat. Kann man sich nicht ausdenken? Doch, kann man.
Zum Nachlesen und rumschnattern:
Die Karriere des Reporters Claas Relotius wurde von einer Form von Journalismus ermöglicht, vielleicht sogar gemacht, die Fiktionen und Fakten miteinander vermischt und die Rolle des Erzählers über die des Rechercheurs stellt. Eine Form des Journalismus, die sich mit Reporterpreisen selbst feiert, die politische Aktivisten wie Michael Moore mit Dokumentarfilmern verwechselt und die es für eine besondere Leistung hält, den Nachrichtenkern von Enthüllungen wie den „Panama-Papers“ unter Abertausenden von schön formulierten Sätzen zu vergraben. Fühlen, was sein könnte – statt sagen, was ist. („Fühlen, was sein könnte“, Salonkolumnisten)
Relotius has received accolades for his daring quest to live among us for several weeks. And yet, he reported on very little actual truth about Fergus Falls life … which begs the question of why Der Spiegel even invested in Relotius’ three week trip to the U.S., whether they should demand their money back from him, and what kind of institutional breakdown led to the supposedly world-class Der Spiegel fact-checking team completely dropping the ball on this one. („Der Spiegel journalist messed with the wrong small town“, Medium)
Und schließlich, weil immer wieder passend: „In der Tat ist Der Spiegel keineswegs ein Nachrichtenblatt. Der redaktionelle Inhalt besteht vielmehr aus einer Sammlung von ‚Stories‘, von Anekdoten, Briefen, Vermutungen, Interviews, Spekulationen, Klatschgeschichten und Bildern. Gelegentlich stößt der Leser auf einen Leitartikel, eine Landkarte, eine statistische Tabelle. Unter allen Mitteilungsformen kommt diejenige am seltensten vor, nach der das Magazin benannt ist: die schlichte Nachricht.(„Die Sprache des Spiegel“, Hans Magnus Enzensberger, 1957)
Vor langer, langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat … Nein, anders: der Unterschied zwischen meinem jüngeren und meinem jetzigen Ich macht sich wohl vor allem in der Gestaltung meiner Wochenenden bemerkbar. Tanzte ich damals noch regelmäßig durch rauschhafte 48-Stunden-Nächte – begleitet von New Yorker Drag Queens, osteuropäischen Fetisch-Skinheads und obskuren Performance-Künstlern aller Nationen, zugedröhnt bis in die Nebenhöhlen, von Kronleuchtern hängend und mit allem kopulierend, was mir dabei in den Weg kam – so kann ich mir heute an einem Samstag nichts Schöneres vorstellen, als zuhause zu bleiben, die Füße hochzulegen und in aller Ruhe ein gutes Buch zu lesen. Und natürlich das Internet vollzuklugscheißern. So schrieb ich heute unter anderem auch einen Leserbrief an den SPIEGEL, in dem ich der Redaktion den Unterschied zwischen „Outing“ und „Coming out“ zu erklären versuchte. Anlass dafür war dieser Artikel. Sollten Sie demnächst also über einen Bischof lesen, der aus dem Schrank kam anstatt sich selbst anzuzeigen, dann ist das mein Verdienst. Habe die Ehre.
Ganz ehrlich: wann haben Sie das letzte Mal Ihre Mutter angerufen und ihr gesagt, wie dankbar Sie ihr sind? Beziehungsweise wie enttäuscht, überfordert, wütend, unter Duck gesetzt, vernachlässigt oder sonstwie emotional ausgelaugt Sie sich fühlen. Vielleicht sprechen Sie aber überhaupt nicht mehr mit Ihrer Mutter. Haben Sie den Kontakt abgebrochen? Liegt sie gar schon unter der Erde, ohne dass Sie die Chance zu einer letzten, alles klärenden Aussprache hatten? Bekommen Sie allein bei dem Gedanken daran marternde Kopfschmerzen, psychosomatische Magenkrämpfe und Tobsuchtsanfälle? Oder lieben Sie Ihre Mutter ganz einfach aus ehrlichem Herzen? Haben Sie Ihren Frieden mit ihr gemacht? Vielleicht mit Hilfe einer Therapie? Analyse? Systemische Beratung? Klangschalen? Elektroschocks? Familienaufstellung? Die Rasselbande vom SPIEGEL hat da längst ihre ganze eigene Form der therapeutischen Aufarbeitung gefunden. Sie lässt ihre Neurosen einfach in regelmäßigen Abständen auf die Titelseite ihres eigenen Magazins photoshoppen. Dort wird aus der Übermutti Merkel dann wahlweise die Verräterin, Trümmerfrau, Geisterfahrerin und schließlich aktuell „Mutter Angela“. Hat sie das alles verdient? Wahrscheinlich.
(Morgen ist Sonntag. Notiz an mich selbst: Mutti anrufen!)