Alle krank (Entwurf für ein Theaterstück)

Erster Akt:
Berlin, Spreeufer. Wir sehen den Konferenzraum der PR- und Marketing-Agentur Frisches Blut. Das komplette Team hat sich versammelt. Hurra, hurra, die Präsentation fürs Ministerium war erfolgreich, die Agentur ist beauftragt! Zwanzig Kopien eines Briefings, fett wie ein Ziegelstein, werden verteilt. Es geht um die Planung einer Festveranstaltung. Irgendeine Initiative des Ministeriums feiert drei Jahre erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Initiative eines anderen Ministeriums. Oder so ähnlich. Auf jeden Fall ist das Budget üppig und der Zeitplan entspannt. Ein paar Telefonate, ein paar Einladungen, eine Broschüre, ein Fotograf, Händeschütteln – das Übliche eben, leicht verdientes Geld. In einer Woche sollen die ersten Entwürfe rübergehen. Alle klopfen auf den Tisch, let’s do this, yeah!

Zweiter Akt:
Drei Monate später kommt die erste Reaktion aus dem Ministerium. Die Assistentin der Vertretung des Pressesprechers des Ministers bittet um Verständnis für die verspätete Rückmeldung, aber der Minister war im Urlaub, sein Pressesprecher krank, dessen Vertretung in Elternteilzeit und sie selbst unterwegs. Der Minister lässt ausrichten, dass er die Entwürfe sehr schön findet, aber gerne etwas anderes, frischeres, bunteres hätte. Und die Broschüre würde jetzt doch noch 60 Seiten länger werden, der neue Text kommt gleich. Neue Entwürfe werden bis zum Nachmittag erwartet, denn danach wäre der Minister unterwegs, sein Pressesprecher im Urlaub, dessen Vertretung krank und die Assistentin schwanger. Die restlichen Korrekturen schickt das Sekretariat der Pressesprecherin des anderen Ministeriums, nachdem diese aus dem Urlaub zurück und ihre Assistentin wieder gesund sei. Aber bereiten Sie doch bitte schon mal die Druckdaten vor, damit es nachher schnell gehen kann. Die Agentur hyperventiliert, die Projektleiterin bekommt Brechdurchfall und der zuständige Designer springt aus dem Fenster in die Spree. Der Volontär ruft daraufhin sämtliche Freelancer an, einer hat Zeit und schickt zwei Stunden später ein komplett neues Layout zurück. Die Assistentin der Vertretung des Pressesprechers des Ministers lässt mitteilen, dass sie die Entwürfe nicht in Word öffnen könne, sie jetzt aber eigentlich auch schon aus dem Haus sei, ihre Kollegin übernehmen werde, nachdem sie aus dem Mutterschaftsurlaub zurück sei, sich dann aber auch erst einmal in das Projekt einarbeiten müsse. Um Geduld wird gebeten.

Dritter Akt:
Einen Monat später: die Vertretung der Kollegin der Assistentin der Vertretung des Pressesprechers schreibt, dass das Kind der Kollegin krank sei, der Pressesprecher aber durch seine Vertretung mitteilen ließ, dass der Minister gerne den ersten Satz aus der Einladungskarte anders formuliert hätte. Damit keine Missverständnisse aufkommen. Außerdem wären die neuen Entwürfe nicht seriös genug und die Broschüre viel zu lang. Die Korrekturen aus dem Sekretariat des anderen Ministeriums seien bitte wieder rückgängig zu machen, weil man dort gar nicht zuständig sei. Es wäre jetzt wirklich sehr wichtig, dass die geänderten Versionen in zwanzig Minuten wieder zur Abstimmung geschickt werden, weil danach der Minister wieder unterwegs sei, der Pressesprecher im Urlaub und die Vertretung der Kollegin krank. Die Auslieferung der Drucksachen würde dann bis Morgen Nachmittag erwartet, denn danach wäre das Sekretariat nicht mehr besetzt und am nächsten Tag sei schließlich Feiertag. Anschließend wäre der Minister dann ja auch im Urlaub, der Pressesprecher krank und alle anderen Beteiligten entweder schwanger oder nicht mehr zuständig.

Letzter Akt:
Der Minister muss seine Teilnahme an der Festveranstaltung leider kurzfristig absagen. Heitere Musik wird eingespielt. Vorhang.


Diese kleine Szenenfolge beschreibt praktisch jedes einzelne Projekt für Kunden aus der Regierung oder dem öffentlichen Dienst, an dem ich in den letzten zwei Jahrzehnten beteiligt war. Es ist natürlich nur ein ganz kleiner Ausschnitt, in Wirklichkeit ist das alles noch viel schlimmer. Täglich werden in der Hauptstadt Maßnahmen und Veranstaltungen geplant und wieder abgesagt, die keinen erkennbaren Nutzen haben, dazu werden Tonnen von Vorgängen und Papier produziert und weitergereicht – von Leuten, die für nichts zuständig und nur selten anwesend sind. Man muss sich den steuerfinanzierten Verwaltungskörper dieses Staates tatsächlich als breit angelegte kafkaeske Beschäftigungstherapie für inkompetente Urlauber und Dauerpatienten vorstellen. Klebt sich eine Agentur das Logo eines Ministeriums oder sonst einer öffentlichen Anstalt in die Kundenliste ihrer Website, so ist das nicht einfach eine Referenz, sondern ein Verdienstorden. Die Schwachsinns-Schlacht wurde überlebt, die Kotze wird aufgewischt, das Geld wieder versteuert. Und weiter geht es. Let’s do this, yeah!

Für das Beste im Mann?

Liebe männliche Leser, fühlen Sie sich von dem folgenden Werbespot feminisiert, nachhaltig entmannt, vielleicht sogar kastriert? Oder einfach nur genervt? Sprechen Sie bitte offen und frei über Ihre Gefühle.

Der Lärm, der gerade um diese neue Marketing-Kampagne von Gillette gemacht wird, ist natürlich maßlos übertrieben. Dass Hersteller sich an hippe soziale Wohlfühl-Trends hängen, um das Image ihrer Produkte aufzuwerten, ist ja nun kein neues Phänomen mehr. Erinnern wir uns zum Beispiel daran, wie das Model Kendall Jenner mit nur einer Pepsi-Dose sämtliche modernen Protestbewegungen befriedet hat. Jetzt ist eben gerade der Kampf gegen die „toxische Männlichkeit“ an der Reihe. Die Botschaft bestätigt dabei nur das, was sich die moderne heterosexuelle Frau von ihrem Partner so alles erwünscht: Stark soll er sein und sensibel zugleich, ja die wahre Männlichkeit soll sich eigentlich erst in seiner Verletzlichkeit zeigen. All zu weinerlich soll er aber bitte auch nicht sein. So ein wenig Durchsetzungskraft wäre schon gut, aber bitte nicht zu viel. Der Mann soll die Frau nicht einschränken, ihr im Zweifelsfall den Vortritt lassen. Rücksichtsvoll soll er sich präsentieren, verständnisvoll und gerecht. Ein wahrer Gentleman also, ein edler Ritter, der sich heldenhaft und schützend vor die Schwachen stellt, der seinen Kindern ein leuchtendes Vorbild ist, das Dach repariert, die Rechnungen bezahlt und die Welt jeden Tag ein ganz kleines, herzerwärmendes Stückchen weit zu einem besseren Ort für uns alle macht. Der beste aller möglichen Männer. Ein Mann wie aus dem Märchenbuch. Dass jetzt so viele empörte Männer aus der realen Welt gleich zum Boykott sämtlicher Gillette-Produkte aufrufen, zeigt, dass die Kampagne offenbar einen wunden Punkt getroffen hat. Das mit der Aufmerksamkeit hat also schon mal funktioniert – ob sich die nun auch günstig auf die Umsatzzahlen auswirkt, bleibt abzuwarten. Denn am Ende wollen sie schließlich auch nur ihre überteuerten Rasierklingen verkaufen. Um nichts anderes geht es.

Dieser üble dünne, vierfach entfärbte Scheiß

„Verpisst euch doch einfach, wenn ihr dies am Bildschirm lest! Ich rede nur, wenn man mich mit beiden Händen packt. Papier aus Zellstoff, Deckel aus Pappe und Leinen, Faden aus Fadenzeugs oder – woraus wird der Einband gemacht? – aus Haaren und Gemüsefasern, mit Leim aus eingekochten Pferdehufen? Das Taschenbuch war schon Kompromiss genug. Und das ist jetzt aus mir geworden: Rücken aus Papier, Extremitäten aus Papier, das Hirn aus zerknülltem Billigpapier, letzte Zuflucht der Verleger vor ihrer Kapitulation vor dem Touchscreen, dieser üble dünne, vierfach entfärbte Scheiß, 100-prozentig säurefreier Recyclingmüll.“

(Joshua Cohen, Buch der Zahlen)

Ich lese gerade Die Brüder Karamasow, in einer alten Paperback-Ausgabe vom Grabbeltisch eines Flohmarktes. Gebrauchte Taschenbücher vom Flohmarkt sind immer eine hübsch niedrigschwellige Option, um verpasste Weltliteratur wegzulesen. Oder um überhaupt zu lesen. Den Karamasows widme ich mich auf diese Weise nun bereits im dritten Anlauf. Bisher war ich nie über die ersten hundert Seiten hinausgekommen. Ach, der alte Dostojewski und seine weltanschaulichen Kopfschmerzen … Dmitri heiratet Katerina, liebt aber Gruschenka. Iwan liebt Katerina. Aljoscha liebt alle und alle hassen den Vater. Wer hat Schuld? Ist Gott gut oder böse? Warum gibt es Gluten? Die Antwort lautet: Weizen, Weizen, Weizen! Drücken Sie mir doch bitte die Daumen, dass ich dieses Mal bis zum Ende durchhalte! Danach widme ich mich dann vielleicht auch wieder aktuelleren Werken. Über das vor kurzem auch auf deutsch erschienene Buch der Zahlen habe ich zum Beispiel schon Erstaunliches vernommen. Ein Epochenroman soll das sein, eine Sprachexplosion, ein Informations-Tsunami, das nächste große Ding, ach was: der Ulysses des digitalen Zeitalters! Was die Lautstärke angeht, scheinen einige Buchverlage heute mit den Verkäufern auf dem Hamburger Fischmarkt konkurrieren zu müssen. Genies und Sensationen gibt es dort im Sonderangebot. Ich warte dann doch lieber, bis der mächtige Epochenroman auf dem Grabbeltisch gelandet ist. Bücher halten sich schließlich auch auf billigem Papier noch etwas länger als Fisch.

Weizen

Eine etwas ruhigere Marketingstrategie fährt der Verleger Götz Kubitschek. Er lässt ganz einfach seine Ehefrau auf YouTube die hausinternen Produkte beim einsamen Schein einer Kerze anpreisen. Den Bestseller Finis Germania erklärt Frau Kubitschek (bzw. Kositza) dort u.a. zu einem „erstklassigen, tiefschürfenden und weitblickenden Werk“ und dessen Autoren Rolf Peter Sieferle so: „Er war nicht nur nicht umstritten, ich würde sogar sagen, das, was er hier schreibt, ist unbestreitbar“. Das Ende von Deutschland ist also keine Explosion, kein Tsunami und auch kein neuer Ulysses, sondern einfach nur die reine, unbestreitbare Wahrheit. Da haben Sie’s. Finis Logika. Unbestreitbar ist zumindest der Erfolg von Kubitscheks Verlag Antaois, trotz (oder gerade wegen?) des sedierten Charmes der Verlegergattin, zu der mir gerade nur ein Wort einfällt: Reichswasserleiche. So lautete einst auch der Spitzenname der Schauspielerin Kristina Söderbaum, weil sie in den Filmen ihres Ehemanns Veit Harlan gerne mal pathetisch ins Wasser ging. Die beiden galten damals als Traumpaar des nationalsozialistischen Opferkitsches. Der blasse, vierfach entfärbte Aufguss davon verlegt heute tiefschürfende Bücher auf einer Ritterburg in Sachsen-Anhalt.

Influenza vulgaris (Voodoo, Wodka, Mind control)

Ab und zu schaue ich in die Statistiken meines Blogs. Nicht regelmäßig und ganz sicher nicht täglich, denn es gibt dort ehrlich gesagt nicht sehr viel zu sehen. Ich bin weit davon entfernt, ein Power-Blogger mit tausenden von süchtigen Abonnenten und astronomischen Klickzahlen zu sein. Nein, ich bin keine dieser einflussreichen Labertaschen, kein Influencer, Mover, Shaker oder Moneymaker – zumindest nicht auf meine Schreiberei bezogen. Ich weiß natürlich, woran das liegt: ich biete hier nicht ausreichend Identifikations-Potential, weder politisch noch persönlich. Die Gründung einer Community liegt mir auch nicht besonders am Herzen. Anders ausgedrückt: ich bin zu gut für diese Welt. Sie ahnten es, habe ich Recht?

Ein ebenso aufschlussreicher wie unterhaltsamer Aspekt einer jeden Blog-Statistik sind aber die Suchbegriffe. Ich habe mich heute zum ersten Mal genauer damit beschäftigt. Weiter unten sehen Sie daher die Top 50 all jener Suchbegriffe, die unschuldige Internet-Nutzer in den letzten drei bis vier Jahren auf meine Seite lockten. Mein Favorit (auf Platz 41) ist eindeutig „voodoo wodka udo lindenberg“, gefolgt von „lena meyer landrut mind control“ (Platz 33). Ansonsten zeichnet sich mengenmäßig eine deutliche Tendenz in Richtung „Aufmunternde Zitate“ und „Merkel“ ab. Wer hätte das gedacht? Ich kann der Kanzlerin nur dringend empfehlen, nach dem baldigen Ende ihrer politischen Karriere so schnell wie möglich einen Sammelband mit aufmunternden Zitaten zu veröffentlichen, das wird garantiert ein Bestseller! Gerne stehe ich dafür auch als Ghostwriter zur Verfügung. Mein bisher meistgelesener Beitrag war übrigens der über Gina-Lisa, was entweder etwas über meine Bedeutung als Autor aussagt oder über den Zustand unserer Gesellschaft. Oder über beides. Oder auch gar nichts – es lebe der Nihilismus! Zum Schluss noch ein aufmunterndes Zitat:

„Sofern sich doch einmal eine gänzlich andere Meinung in ein Weblog verirrt, eine, die man nicht genauso gut jeden Tag in der Magdeburger Volksstimme nachlesen kann, ist es mit Sicherheit eine Meinung, die man in jeder geschlossenen psychiatrischen Abteilung hören kann.“ (Quelle: hier)

Best of Suchbegriffe 2014-2017:

1. aufmunternde zitate
2. halt dich einfach mal die fresse
3. schrauben sind nägel mit falten
4. radikale heiterkeit
5. zitate zum aufmuntern
6. chantalisierung
7. zitate aufmunterung
8. geisterfahrerin merkel
9. wenn dies mein ende ist
10. möpse
11. merkel die verräterin
12. spiegel titel merkel
13. spiegel königin merkel
14. take your broken heart make it into art
15. no wummen no cry
16. merkel schock
17. martin walser augenbrauen
18. trump schlauster präsident papst junge
19. yolocaust bilder
20. it’s the terror of knowing what this world is about
21. ich bin dieser zumba von dem deine frau immer spricht
22. s bahn viel zu laut when the saints go marching in
23. alice weidel + queer
24. glamour magazin statistik leser
25. einen spiegel, dass ich mir in die fresse spein kann
26. mach dich leicht
27. die wahren helden sehen selten wie helden aus. original
28. stefanie kloß prenzlberg
29. u.karven-nackt im tv
30. los hau es mir richtig in die fresse
31. zarathustra zitate
32. wie bekomme ich eine maximale erregung
33. lena meyer landrut mind control
34. checkpoint charlie bekannter schauspieler
35. zellen zum wixen
36. das elend in alles steht kopf
37. sei wie die taube scheiss auf alles
38. karin düwel werbung
39. innere fresse du
40. biller quartett scientology
41. voodoo wodka udo lindenberg
42. herbst 2016 armageddon
43. gesocks san francisco stsrtup
44. frühling monolog
45. wahrsagerin helmut kohl
46. größtmögliche erregung
47. not today satan not today was was bedeutet das?
48. wagner pizzaschuhe
49. merkel parodie
50. junge Männer spiegel

Masters of Scum, Mothers of Invention

Gelegentlich bilde ich mich auf eigene Kosten weiter, genauer gesagt: ich kaufe mir ein überteuertes Fachmagazin und beömmele mich über das stetig wachsende Arsenal an Bullshit-Vokabular in meiner Branche (also der Branche, durch die ich immer noch den größten Teil meines Einkommens generiere). Besonders im Bereich der Arbeitsbezeichnungen gibt es viel zu lachen. So las ich gerade erst von einem jungen Mann, der als Head of Delivery und Scrum Master vorgestellt wurde. Bitte sehen Sie von aufklärerischen Kommentaren oder Wikipedia-Verlinkungen ab – ich weiß, was diese Begriffe bedeuten. Die größte Weiterbildungs-Maschine unserer Zeit heißt schließlich Google. Sollten Sie stattdessen aber die Mutter des Scrum Masters befragen, was ihr Sohn denn so beruflich macht, wird die Ihnen wahrscheinlich antworten: Was mit Internet. Mütter bringen es immer am besten auf den Punkt. Befragen Sie daher auch die Mütter von Digital Evangelists, von Lead Unit Business Directors und Client Awareness Developing Coaches, die Mütter von Reason Why Strategists und auch die von Branding Experience Consultants. Ich sage: Im Wissen der Mütter liegt die Weisheit der Welt. With kind regards, Ihr Senior Head of Kitchen Poetry und Hustendrops vom Dienst.

Am Ende musste ich weinen.

Seit einer halben Stunde muss sie aufs Klo. Entsprechend unruhig trommelt sie mit den Fingern auf den Tisch. Die Präsentation stockt. Die zwei Heinis von der Agentur suchen verzweifelt nach einer vermissten Powerpoint-Folie. Das Trommeln macht die beiden zusätzlich nervös. „Das ist uns jetzt aber wirklich peinlich, Frau Bundeskanzlerin.“ Heini Nr. 1 wischt mit schwitzigen Fingern über sein Laptop, während Heini Nr. 2 verkrampft in die Runde grinst. *Trommel-trommel-trommel* Sie seufzt. Die sind sowieso nur hier, weil ihr Chef die Empfangs-Susi der Jungen Union vögelt. Alle wissen das. Sie schaut jetzt zu Tauber rüber, der ihr das vereinbarte Zeichen gibt. Zweimal die linke Augenbraue nach oben bedeutet: Durchhalten, gleich machen wir Mittagspause.

Plötzlich kommen die Heinis doch noch mal richtig in Schwung. Die vermisste Folie ist wieder aufgetaucht. Virales Marketing ist das Thema. Sie reden von Likes und Learnings, und sie präsentieren voller Stolz ein Video mit dem Titel „Sie werden nicht glauben, was dieses krebskranke Entenbaby in Sachsen-Anhalt seiner Mutter zum Geburtstag schenkte. Am Ende musste ich weinen.“ Das Entenbaby heißt Angela. „So stellen wir eine unterschwellig emotionale Bindung zur Kanzlermarke her“, erklärt der Heini Nummer eins. „Laut einer aktuellen Studie identifizieren sich 75 Prozent aller Wähler eher mit einem niedlichen Küken als mit einer politischen Botschaft.“ Ihr schwirrt der Kopf. Ich fang auch gleich an zu heulen, denkt sie. Die Agentur-Heinis von gestern hatten wenigstens ihre Klappe gehalten, erinnert sie sich. Obwohl sie anfangs nicht gleich verstanden hatte, weshalb. Ja, weshalb hielten die eigentlich ständig bunte Bildchen in die Luft, ohne etwas zu sagen? Tauber hatte ihr schließlich erklärt, dass es sich bei der seltsamen Truppe um die derzeit angesagteste Social-Media-Agentur vom Maybachufer handelte. Deren Spezialität waren „postsprachliche“ Kampagnen, die ausschließlich aus Emojis bestehen. Um diese innovative Idee erlebbar zu machen, wurde auch die Präsentation konsequenterweise komplett mit Emojis abgehalten. Ohne Worte. Zwischenzeitlich hatte sie sich gefühlt wie beim Inklusionsfasching in einer Taubstummen-Kita. „Schauen Sie mal, Frau Merkel, wie süß es watschelt!“, ruft Heini Nr. 1 gerade und holt sie zurück in die Gegenwart. Sie gibt Tauber Zeichen. Dreimal beide Augenbrauen nach oben bedeutet: Sofort abbrechen! „Sehr schön. Vielen Dank, meine Herren!“

„OMG, Angela, OMG! Diesmal wird die Wahl auf Facebook entschieden, auf Twitter und auf BuzzFeed. Die Presse kannst du endgültig in der Pfeife rauchen. Das Kanzlerduell interessiert auch niemanden mehr. Schau mal, wie die Amis das gemacht haben. Wir müssen jetzt ganz andere Kanäle bespielen!“ „Ja ja, ich weiß. Aber doch nicht mit Entenbabies oder tanzenden Kackhaufen mit Gesichtern drauf! Apropos: Ich geh jetzt mal für kleine Mädchen. Wenn ich wiederkomme, will ich endlich ein paar vernünftige Ideen hören, Tauber! Denk doch mal über dieses Gorilla-Marketing nach.“ „Guerilla, Angela, Guerilla!“

Ende 2017: die Schwarz-Rot-Rot-Grün-Gelbe Koalition steht. Die Idee, in letzter Minute eine Gruppe von Studenten der Humboldt-Universität zu engagieren, die mit #MerkelBleibt-Schildern das Kanzleramt besetzten, hat sich ausgezahlt. Zur gleichen Zeit verhandelt Frauke Petry mit den Russen über einen Militäreinsatz zur Stürmung des Regierungsviertels. Und die Empfangs-Susi der Jungen Union ist im siebten Monat schwanger.

Willkommen im Panic Room, bitte nehmen Sie Platz!

Na? Ist er noch da, der Kick? Der Kitzel? Dieser gruselige Schauer, der Sie heute morgen überfiel, als Sie die frohe Kunde aus den USA ereilte? Schieben Sie noch immer Panik? Rast Ihr Herz in einem besorgniserregenden Tempo? Ist Ihr Adrenalin-Pegel auf einem neuen Rekordstand? Gehen Ihnen die Facebook-Memes aus? Sind Sie schon vollkommen durchgedreht und knabbern an der Tischkante? Geben Sie mir die Hand und atmen Sie tief durch. Eins, zwei drei … Ja, genau so. Ich habe auch nicht damit gerechnet, nein, das gebe ich ehrlich zu. Meine Eignung als politisches Orakel scheint begrenzt zu sein. Aber wissen Sie was? Es ist gut, sich der eigenen Angst und Ohnmacht zu stellen. Es kann sogar sehr heilsam sein. Und sorgen Sie sich nicht darum, ob Ihre verdammte Krankenkasse dafür die Kosten übernimmt (die wird sowieso bald abgeschafft), denn diese Therapie gibt es vollkommen gratis.

Schauen Sie Ihrer Angst stattdessen direkt ins Gesicht. Donald Trump mag ein größenwahnsinniger Hallodri sein, der es meisterhaft verstanden hat, den schöngeistigen Teil der Menscheit verbal die Wände hochzutreiben. Was er aber ganz sicher nicht ist: Adolf Hitler. In New York haben nun mal alle eine große Klappe. Das brauchen sie auch, denn anders können sie dort gar nicht überleben. Weder Nine Eleven noch die strickenden Hipster aus Brooklyn haben aus der Stadt einen Streichelzoo machen können. Donald, die alte Knallcharge, he tells it like it is! Dafür lieben ihn seine Anhänger. Sehr wahrscheinlich hat er ihnen aber auch eine ganze Menge Zeug erzählt, an das er sich in in einigen Monaten nicht mehr erinnern wird. Oder erinnern will. The more you tell, the more you sell. Wollt ihr euer eigenes Casino? Mit goldenen Badewannen? Noch ein Swimming Pool auf’s Dach? Wer will den Chinesen mal so richtig in den Arsch treten? Oder der deutschen Kanzlerin? Dem Islamischen Staat? Kein Problem! Jetzt geht hier die Post ab. Oder auch nicht. Spannend wird es auf jeden Fall. Also nehmen Sie schon mal Platz. Wollen Sie Popcorn? Mittlere Größe? XXL? Jetzt seien Sie mal nicht so bescheiden! Sie Loser!

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Steht nicht auf Verlierer: Amerikas künftige First Lady.

Die Nachgeburt

Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! Also wirklich, bitte verlassen Sie den Tatort, Sie behindern hier nur die Ermittlungsarbeit mit Ihrer dummen Gafferei! Oder wollen Sie wirklich live und in Echtzeit dabei zuschauen, wie ich erfolglos versuche, die neueste Veröffentlichung von Alexa Hennig von Lange zu ignorieren? Na gut. Sollten Sie sich noch an die Zeit kurz vor dem Millennium erinnern können, dann lässt der Name Alexa Dingens von Bummens vielleicht noch die ein oder andere Glocke in Ihrem Gedächtnis läuten. Das war jene sommersprossige junge Dame, die mit ihren crazy Jugendbüchern durch die Medien gereicht wurde, zeitgleich mit Benjamin von Stuckrad-Barre. Ohne ein „von“ hat es die Popliteratur damals nicht gemacht. Die Rolle des tragischen Berliner Partymädchens habe ich ihr damals schon nicht abgekauft, sondern eher als mediokre Travestie empfunden. Aber so lief das in den 90ern: man kam irgendwo aus der westfälischen Provinz zum Studieren oder Arbeiten in die Techno-Hauptstadt, zog dreimal eine Nase Koks in irgendeinem Kellerclub in Mitte, drehte mal richtig frei auf dem Kopfsteinpflaster, und schon war man der Nabel der Welt – es winkten Buchverträge und Auftritte bei Harald Schmidt. Dann kam Charlotte Roche und es wurde alles noch viel schlimmer (merke: schlimmer geht immer!)

Fast 20 Jahre später haben sich die Themen der einst flippigen Autorin naturgemäß etwas verändert. Es treten auf: fünf Kinder, ein Ehemann und ein Apfelgarten in der Uckermark. Oder irgendwo da in der Nähe. Auf jeden Fall in Brandenburg, in der „Region“. Dort nisten sich schon seit Jahren die gestressten Vertreter der Berliner Kulturszene ein, kaufen alte Scheunen auf, züchten Hühner und veröffentlichen Bücher über Landflucht, übers Kuchenbacken und die eigene Familiengründung. Frau Dingens von Bummens kommt mit ihrem Beitrag zu dem Thema zwar ein wenig spät um die Ecke, aber sie war halt auch sehr beschäftigt. Mit den Kindern und so. Seltsamerweise bewirbt der Verlag nun ihr neues Buch u.a. mit der steilen Behauptung „Kinder gelten heute als Anschlag auf die gute Laune, als Sargnagel im Lebensplan.“ Seit wann das denn? Ich zumindest nehme genau das Gegenteil davon wahr. Nie wurde ein größeres Bohei um den Nachwuchs gemacht als aktuell. Kinder sind heute wieder die absolute Nummer Eins bürgerlicher Heilsversprechen. An allen Ecken nerven Mami-Blogs, Ratgeber-Literatur und Magazine für die sendungsbewusste Vollwert-Patchwork-Familie aus der IKEA-Reklame. Und auch bei Familie Hennig von Lange muss alles raus: Die Sorgen. Die Nöte. Die Windeln. Die Spaghetti. Das Smartphone. Der Geschirrspüler. Und die Babysitterin. Familien sind das neue Koks.

Zugegeben: ich bin auch ein klein wenig neidisch auf Menschen, die es schaffen, jeden Aspekt ihrer öden Biografie so unbekümmert und produktiv zu vermarkten. Insofern ist mir Alexa Dummdidumm von Hopsassa ein heimliches Vorbild. Ja, irgendwann werden sie dann wohl auch erscheinen – meine eigenen literarischen Ergüsse! Mindestens fünf Romane habe ich schon in der Schublade. Notizen über ein schillerndes Leben zwischen Diktatur, Alkohol, Sperma und UFO-Sichtungen. Mit heißer Hand getippt und garantiert ohne Ratschläge zur Kindererziehung. Vielleicht werden sie aber auch erst nach meinem Ableben veröffentlicht. So eilig habe ich es eigentlich nicht. Als treuer Jünger Friedrich Nietzsches vermute ich, dass auch mein Werk wohl eher für die Nachgeborenen bestimmt sein wird. Jetzt gehen Sie bitte weiter!

Schmerzen, Zumba, Pasta, Wow!

Heute morgen kam mir eine Frau in orangefarbener Funktionskleidung entgegen gehechelt – leuchtend wie eine Wetterboje, bewaffnet mit einem Ungetüm von Kopfhörern, zwei Nordic-Walking-Plastikstöckchen und einem dieser überteuerten Baumkuchen vom Café um die Ecke. Eigentlich konnte ich nur die Papiertüte des Cafés eindeutig erkennen. Aber es wird wohl ein Baumkuchen drin gewesen sein, wegen dem rennen sie dort alle hin. Da hechelte sie also an mir vorbei, eine leuchtende, schwitzende, Baumkuchen-balancierende Selbstoptimierungs-Maschine auf dem Weg in eine ganz sicher minutiös verplante Woche.

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Fast Forward: Hamburg im Spätsommer des Jahres 2095. Der BAUER-Verlag feiert die Veröffentlichung von GERIA, der zehnmillionsten Frauenzeitschrift in der Geschichte des Unternehmens. Stargast des Abends ist die 145-jährige Iris Berben, die auch den Titel der neuen Zeitschrift ziert und aus ihrem Sauerstoffzelt heraus zu den geladenen Gästen spricht. Frau Berben fühlt sich noch immer keinen Tag älter als 65, sie aquajoggt täglich sieben Kilometer, ernährt sich von fair eingeflogenem Plankton, trinkt Rote-Beete-Hyaluron-Hormon-Smoothies und telefoniert jeden Abend mit dem Urenkel vom Dalai Lama. Wichtig für ein erfülltes und aktives Leben, auch jenseits der 120, sei vor allem eine positive Ausstrahlung, sagt sie. Kasteien Sie sich nicht mit Diäten, meine Damen! Schlemmen Sie auch mal! Pasta und Baumkuchen. Aber nicht zu viel. Alles in Maßen! Und mindestens 16 Stunden Schlaf! Und immer schön positiv denken! Und Sauerstoff, sagt sie noch, ganz viel Sauerstoff! *Hechel*

Alles, was die Musik mit uns macht, lassen wir zu.

„Ich bin bei The Voice so, wie ich bin, und das gilt für die anderen Coaches auch. Alles, was die Musik mit uns macht, lassen wir zu. Dazu gehört auch mal eine Träne verdrücken.“  

Nein, liebe Stefanie Kloß, das „gehört nicht auch mal dazu“, das ist vielmehr das zentrale Konzept des TV-Formates, in dem Sie und Ihre Kollegen sich aus Gründen der Eigenvermarktung gut bezahlt den Arsch breit sitzen, während fiebrig verstrahlte Familien backstage darauf hoffen, dass Sie sich gnädiger Weise per Knopfdruck mit ihrem mechanischen Monstersessel zu deren trällernden Verwandten umdrehen (wer von meinen Lesern sich bisher vor diesem Format erfolgreich schützen konnte, sprich: noch nie eine Folge von „The Voice of Germany“ gesehen hat, der hat nun höchstwahrscheinlich kein einziges Wort meines oben stehenden Geschreibsels verstanden, wofür ich mich hiermit in aller Form entschuldigen möchte. Kleiner Verbeuger und Klammer wieder zu!). Tränen sind der Cum Shot des Privatfernsehens – diese hübsche, nicht mehr ganz neue Aussage stammt nicht von mir, aber ich borge sie mir hiermit aus, denn sie gilt nach wie vor. Wer nicht heult, kommt gar nicht erst ins Programm. Also heulen sie alle auf Bestellung und erzählen dann, dass sie nun mal so sind, sie können nicht anders, alles muss raus. Ja, Stefanie, zeigen Sie uns, was die Musik mit Ihnen macht! Lassen Sie es mal so richtig laufen! Den Rest besorgt dann der Final Cut: auf dass genau die aufgebrezelte, tränenreiche, permanent mit manipulativ klebrigen Soundtrack-Schnippseln unterlegte Karaoke-Taschentuch-Emo-Party aus der Hölle dabei herauskommt, von der das dankbare Publikum offenbar nicht genug bekommen kann.

P.S. Die Überschrift dieses Textes sollte ursprünglich „Wie ein Kloß eine Träne verdrückt“ heißen, was mir dann zu platt erschien. Allerdings nicht platt genug, um nicht doch noch ein ganz klein wenig damit hausieren zu gehen.