Who’s gonna drive you home tonight? (Ich streame weiter)

Ich bin auf der Flucht. Im Autoradio höre ich die Fahndungsnachricht, sie kennen jetzt meinen Namen. Ich wechsle den Sender, drehe die Musik auf und singe, schreie mit, so laut ich kann: „Gloria, don’t you think you’re falling? If everybody wants you, why isn’t anybody caaaalling?“ Vor mir liegt Miami Beach, Schauplatz meines nächsten Mordes. Es wird der letzte sein, der beste und glamouröseste. „Gloria, I think they got your number … I think they got the alias that you’ve been living under …“ Das Meer ist so blau, wie ich es erwartet habe und Laura Branigan begleitet mich in den Untergang. Ich habe nichts mehr zu verlieren.


Tatort Netflix. Ich habe die perfekte Serie gefunden, endlich, wenn auch mit etwas Verspätung: The Assassination of Gianni Versace (veröffentlicht 2018 auf FX). Perfekt auf mich zugeschnitten, ich bin wohl die Zielgruppe. Weil ich nun mal eine Schwäche für charismatische Serienkiller habe, für ihre Motive, ihre Psyche und ihren Lebenslauf. Vielleicht auch, weil mein lieber Gatte mir bereits vor Jahren erzählte, dass er den späteren Versace-Mörder Andrew Cunanan Mitte der 90er Jahre tatsächlich mal in einer Bar in San Francisco kennengelernt hatte. Es war nur eine kurze Begegnung, er hat es überlebt. Die Serie haben wir uns nun zusammen angeschaut. Dort wird Cunanan als ebenso psychopathischer wie einsamer Charakter dargestellt, ein Besessener und Größenwahnsinniger, der sich vor seinen Mitmenschen immer wieder neu erfindet. Ständig präsentiert er neue, fantastische Versionen seiner Biografie, während seine wahre Lebensgeschichte in Rückblenden rekonstruiert wird. Darin eingebunden sind auch die Geschichten seiner Opfer, inklusive die von Gianni Versace (dessen Mord zwar den erzählerischen Rahmen bildet, insgesamt aber höchstens zehn Prozent der Handlung einnimmt). Die Familie Versace hat sich ausdrücklich von dieser Produktion distanziert und leugnet bis heute, dass Cunanan und Versace vor seiner Ermordung jemals persönlichen Kontakt hatten. In der Filmversion finden deren Begegnungen dann meist auch in künstlich inszenierten Umgebungen oder in traumähnlichen Sequenzen statt. Vielleicht ist es gar nicht wichtig, ob die beiden sich wirklich kannten oder nicht, denn durch den Mord bleiben ihre Namen für immer miteinander vereint. Zum Schulabschluss soll Andrew Cunanan von seinen Mitschülern den Titel „Most Likely To Be Remembered“ verliehen bekommen haben. Diese Prophezeiung dürfte sich nun endgültig erfüllt haben.

Criss_Cunanan

Die perfekte Serie kann für mich nur eine Miniserie sein. Sechs bis zehn Episoden, das reicht. In diesem Fall sind es neun. Ein kompakter dramatischer Bogen. Keiner dieser aufgeblasenen Glotz-Marathons, bei dem ich spätestens nach der zweiten Staffel die weiße Fahne schwenke, weil mein anfängliches Interesse sich längst in Erschöpfung und in Missgefallen über endlose Storylines und ständig neue hanebüchene Plot-Twists aufgelöst hat. Auch das Casting ist nahezu perfekt. Neben Hauptdarsteller Darren Criss hat mich vor allem Judith Light in einer Nebenrolle begeistert. Kinder der 80er Jahre kennen sie vielleicht noch aus der Sitcom „Wer ist hier der Boss?“. Hier spielt sie nun die Witwe eines der Mordopfer von Andrew Cunanan, die Homeshopping-Queen Marilyn Miglin, die ihr Leben vor allem auf Selbstbeherrschung und Verdrängung aufgebaut hat. In ihrer kalten Maskerade aus hochtoupierter Betonfrisur, High Heels und eisernem Willen wirkt sie fast noch beängstigender als der Mörder Cunanan in seinen psychopathischsten Momenten. Dazwischen blitzt aber auch bei ihr immer wieder subtile Verzweiflung durch, die Maske wird langsam brüchig. Eine unglaubliche, ja unheimliche Performance.  

Light_Miglin

Ach, und die Musik, die hat ein eigenes Kapitel verdient. Es gibt den Original Score von Mac Quayle, der dafür kunstvoll Elemente von Giorgio Moroder, Ambient und italienischer Oper kombinierte. Und es gibt das, was ich als das große Ryan-Murphy-Disco-Drama bezeichnen möchte. Ryan Murphy ist vor allem als Produzent von Glee bekannt geworden (die Serie, durch die übrigens auch Darren Criss erstmals größere Bekanntheit erlangte). Dort sangen und tanzten sich aufgekratzte High School Kids alle paar Minuten die Seele aus dem Leib. Das war vielleicht noch nicht wirklich die Krone der TV-Unterhaltung, aber schon dort bewies er ein sicheres Gespür dafür, alten Popsongs neues Leben einzuhauchen. Dieses Gespür wurde in seinen anspruchsvolleren Produktionen der letzten Jahre noch extrem verfeinert. Auch wenn er nicht immer selbst Regie führt, bleibt seine Handschrift im Soundtrack doch immer unverkennbar.

Als The Assassination of Gianni Versace vor mehr als zwei Jahren beworben wurde, machte vor allem eine Szene die Runde: Darren Criss tanzt als Andrew Cunanan, nur mit knapper rosa Unterhose bekleidet, durch ein Hotelzimmer, es läuft „Easy Lover“ von Philip Bailey und Phil Collins, während auf dem Bett ein alter Mann um sein Leben kämpft. Erinnerungen an die alberne Verfilmung von „American Psycho“ wurden wach, aber glauben Sie mir: das hier ist viel, viel besser. Und es gibt diese Szene, in der Andrew in einem Pub sitz, an irgendeiner Landstraße, unterwegs von einem Mord zum nächsten. Wie hypnotisiert schaut er sich den Auftritt einer Sängerin an (Aimee Mann in einer kleinen Gastrolle), die eine Akustik-Version von „Drive“ (The Cars, 1984) zum Besten gibt. „You can’t go on thinking nothing’s wrong …“ scheint sie nur für ihn zu singen. Was folgt, ist die vielleicht traurigste und herzzerreißendste Minute der gesamten Geschichte, sie spielt sich allein in Andrews Gesicht ab. Die finale Mordszene wird schließlich mit „Vienna“ von Ultravox unterlegt. All das hätte sehr leicht in manipulativen Schmalz umkippen können. Tut es aber nicht, dazu ist es zu präzise inszeniert. In diesen Momenten glaubt man fast, die Songs seien einzig und allein für diese eine Szene und ihren Protagonisten komponiert worden.

Ryan Murphy hat ein goldenes Händchen für solche Momente. Damit heben sich seine Serien auch wohltuend vom Großteil seiner Konkurrenz ab, die musikalisch gerne besonders dick aufträgt und dabei immer verlässlich daneben greift. Denn einfach nur deprimierende Songs über ohnehin schon deprimierende Szenen legen oder hektischen Technoschrott über hektische Verfolgungsjagden, bis den Zuschauern die Ohren bluten, das kann jeder. Dazu braucht man nicht mehr als die Sensibilität einer Scheibe Toastbrot bzw. eines durchschnittlichen ZDF-Redakteurs. Was dagegen in The Assassination of Gianni Versace passiert, ist die Erhebung von vermeintlich schnödem Radiopop auf ein neues dramatisches Level, wo Disco, New Wave, Oper, Camp und griechische Tragödie eine perfekte Symbiose eingehen. Im Dienste der perfekten Serie. Oh je, immer dieses schlimme P-Wort, ich weiß … aber ich kann nicht anders!

Fazit: Thema, Form, Darsteller, Soundtrack – alles perfekt. Fast. Einen einzigen Schönheitsfehler gibt es, aber selbst der wird am Ende noch durch einen brillanten Regie-Einfall neutralisiert. Es geht um Penélope Cruz bzw. um Donatella Versace. Eine seltsame Besetzung. Im Vergleich mit dem realen Vorbild erscheint Frau Cruz immer drei Nummern zu elegant, zu attraktiv und zu farblos. Da helfen auch das falsche Gebiss und das angestrengte Genuschel nicht. Aber dann: in einer der letzten Einstellungen schaut die trauernde falsche Donatella in einen mit dem Versace-Logo geprägten Spiegel. Ihr Gesicht verschmilzt mit dem Kopf der Medusa und sie sieht sich selbst für einen kurzen Augenblick entstellt, wahnsinnig, zur Fratze verzerrt. Ein Ausblick auf ihr zukünftiges Erscheinungsbild. Perfekt.


Abschließend möchte ich bekennen, dass ich meinen Gatten um seine damalige Begegnung mit Andrew Cunanan beneide. Ich finde die meisten Menschen dermaßen langweilig, dass mir die Bekanntschaft eines Serienkillers als faszinierende Abwechslung erscheint. Man sollte von seinen Mitmenschen aber auch nicht zu viel erwarten, jedenfalls nichts, was man nicht auch selber tun kann (alte Volksweisheit). In diesem Sinne sollte ich vielleicht einfach mal selbst … Also Sie hören von mir.


Trailer: „The Assassination of Gianni Versace“

How to be somebody in a century of nobodies

I have gazed into the abyss and the abyss has gazed into me.
And neither of us liked what we saw.
(Brother Theodore)

Haben Sie nicht auch langsam die Schnauze voll von all den nervtötenden Predigern des Guten, Wahren und Gerechten? Gehen sie Ihnen auch so auf die Nerven, diese selbstgerechten Nebelkrähen und bigotten Krawallschachteln, Oberlehrer, Pfaffen und Aktivisten, die tagein, tagaus die Kanäle mit ihren sinnlosen Mahnungen und Belehrungen verstopfen? Dann wird es jetzt wohl Zeit für den Auftritt von Bruder Theodor, dem einzigen Mahner und Propheten, dem Sie auf diesem lächerlichen Planeten noch ihr Ohr leihen sollten. Bruder Theodor spricht aus dem Grab zu Ihnen, denn seine sterbliche Hülle ist leider schon von uns gegangen. Seine Botschaft aber lebt weiter, sie kündet von düsteren Verschwörungen und Verschwurbelungen, von der Nutzlosigkeit menschlicher Existenz und von den Vorteilen, auf allen vieren zu laufen. Wenn Sie Bruder Theodor für einen Freak, eine Lachnummer oder eine tragische Gestalt halten, verkennen Sie sein dunkles Genie. Der Freak sind Sie selbst. Und der Bewusstseinsstrom, den Bruder Theodor Ihnen entgegen sprudelt, ist nichts anderes als Ihre eigene innere Stimme. Es ist der Wahnsinn, der Schwachsinn, Ihre wahre Natur, die Sie mühselig in Zaum zu halten versuchen. Ja, lachen Sie nur, Sie armer Irrer!

brother

„His appearance and demeanor are those of a frenzied Fuehrer … a magical messiah … a rabble rouser without a cause – unless his cause is to promote the power of negative thinking and the glorification of anguish and despair.“ (Village Voice, 1956)

Theodor Gottlieb, geboren 1906 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Unternehmer-Familie in Düsseldorf, schleppte eine ebenso grausame wie bunte Biographie mit sich herum. Als Emigrant und einziger Holocaust-Überlebender seiner Familie erfand er sich in Amerika nach Jahren der Armut als Theater-Attraktion neu. In den 50er Jahren saß unter anderem ein junger Woody Allen im Publikum, wenn Brother Theodore seine bizarren und absurden Predigten auf den Off-Off-Bühnen des Greenwich Village hielt. Talkshow-Auftritte und kleinere Filmrollen verhalfen ihm später auch zu einer landesweiten Berühmtheit. Ich selbst stieß erst vor wenigen Jahren auf seinen Namen und seine Geschichte, den unendlichen Archiven des Internets sei’s gedankt. Wenn Sie für das Überleben im kommenden Jahrzehnt noch einen kleinen Motivations-Schub brauchen oder einfach nur eine langweilige Silvesterparty ein wenig aufmischen wollen, dann lernen Sie von dem großen Brother Theodore und sprechen Sie mir nun laut und deutlich nach: I’m a somebody in a century of nobodies, I’ve always known it, and now I said it, and now you know it too!


Zum Nachlesen und Nachhören:

Stand-Up Tragedy (Zum Tod von Brother Theodore, 2001)
To My Great Chagrin (Teaser zur gleichnamigen Dokumentation)
Quadrupedism (Zurück auf alle Viere!)
The Secret Noodle Ring in Minnesota (Auftritt bei David Letterman)

Play that funky Music Rammstein

Die Kunst des musikalischen Mashups besteht bekanntlich darin, populäre Songs unterschiedlichster Herkunft zu einem möglichst harmonischen Brei zusammenzurühren. Der überraschte Hörer erlebt dabei unerwartete rhythmische und melodische Gemeinsamkeiten. Das ist nichts für zarte Puristen-Seelen, aber genau das Richtige für mein dunkles hedonistisches Party-Herz. Sehr erfreut war ich daher, diese Perle entdeckt zu haben. Lieber DJ Cummerbund, Sie sind ein gottverdammtes Genie! Ich zitiere einen der Youtube-Kommentatoren: This is why the internet was invented …

Tatsächlich ist das Internet bis zum Rand gefüllt mit Mashups aller Art und Qualitäten. Beispiele gefällig? Nicht ganz so unterhaltsam wie Play that Funky Music Rammstein, aber eine hübsche Alternative zur aktuellen Weihnachtsbeschallung ist dieser Brei aus Marilyn Manson und Mariah Carey. Old School Madonna geht ja auch immer – z.B. mit nicht weniger als 15 anderen Popsongs zusammen ins Bett. Und kurz vorm Weltuntergang tanzen meine letzten drei Gehirnzellen ganz sicher zu diesem Prachtstück. Ach, Sie glauben, eine minderjährige Sandra mit Schulterpolstern verträgt sich nicht mit Kurt Cobain? Sie haben ja keine Ahnung, unter der Discokugel sind wir alle gleich. In diesem Sinne: Frohes Fest!

Unter Leuten – The Musical

Yesterday’s weirdness is tomorrow’s reason why. 
(Hunter S. Thompson)

Schauplatz Victoria-Bar, vier Uhr morgens. Ich sitze vor meinem zwölften Wodka-Martini und weiß nicht mehr genau, warum ich eigentlich hier bin. Unter dem Tisch liegt Ben Becker und isst Erdnüsse, die Stimmung ist ausgelassen. Neben mir sitzt eine Frau und lallt mir ins Ohr. Sie verwechselt mich mit jemandem, ich glaube mit Tom Tykwer. Sie ist ganz schön geladen, war heute schon auf mindestens fünf verschiedenen Berlinale-Empfängen. Seit dem frühen Abend pitcht sie tourettehaft ihre Drehbuch-Konzepte durch die Stadt und jetzt bin ich wohl dran. Sie würde wirklich gerne die Lebensgeschichte von Greta Thunberg verfilmen, mit Emma Schweiger in der Hauptrolle. Wir sollten das jetzt machen, meint sie, denn wenn wir das nicht machen, macht es ein anderer! Na, dann machen wir das jetzt mal schnell, sage ich, schließlich bin ich jetzt Tom Tykwer und hackedicht. Die Tür geht auf und Dieter Kosslick fällt herein. Auch er weiß eigentlich nicht, warum er hier ist, aber er hat draußen den roten Fußabtreter gesehen und dachte, er schaut mal rein. Alte Gewohnheit. Alle lachen, hahaha, der Glamour-Dieter, der weiß, wie man einen Auftritt hinlegt! Saalrunde, jetzt wird nachgetankt! Heike Makatsch kommt vorbei und fragt, ob wir ihren Hund gesehen hätten – einen alkoholsüchtigen Mops, der aussieht wie Moritz von Uslar. Die Pitcherin hängt mir immer noch am Ohr. Was richtig Großes will sie endlich mal machen, lallt sie, eine Juli-Zeh-Verfilmung, einen Tatort, oder was mit Cate Blanchett! Ob ich nicht zufällig die Nummer von Cate Blanchett hätte? Alles langweilig, lalle ich zurück, sie soll sich mal was neues trauen, Prost, meine Liebe! Jetzt kommt sie in Schwung … Ja, wir müssen die Leute mal wieder aus den Sitzen hauen, den Zeitgeist ficken, mal was richtig kontroverses machen … was mit Nazis und Klimawandel und allem drum und dran, aber edgy und experimentell, denk an Fatih Akin, Schlingensief, Werner Herzog, nur viel krasser … auf Netflix, mit einem Nachwuchsregisseur, der Asperger hat und seine Schauspieler anschreit … Ich fange an zu singen … Schließlich einigen wir uns dann auf einen apokalyptischen Klima-Thriller, in dem ein sprechender Mops namens Greta (gespielt von Udo Kier) im Hambacher Forst ein unterirdisches Folter-Labor betreibt und aus den Knochen von AfD-Wählern Solarbatterien herstellt – zu gleichen Teilen episch und splatterhaft erzählt, Cloud Atlas meets Deutsches Kettensägenmassaker meets Stalker meets Unterleuten, aber als Musical und in schwarz-weiß. Wir müssen das jetzt machen, rufe ich, sonst macht das ein anderer! Dann rutsche ich vom Stuhl und streite mich mit Ben Becker um die letzten Erdnüsse. Cut!

red

Haut und Knochen

Wahrscheinlich haben Sie es schon gehört bzw. gelesen: Zombie Boy ist tot. Über den Tod eines Zombies zu berichten, gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Sommers. Rick Genest, der junge Mann hinter dem untoten Image, hatte offenbar Gründe, sich derart zutätowieren zu lassen. Eine Krankheit, ein Tumor, ein Schicksal … irgendwas ist ja immer. Tätowierungen sind (zumindest dort, wo sie nicht sowieso schon Teil einer kulturellen Tradition waren) traditionell das Markenzeichen der Outlaws, der wilden Jungs, die den anderen beweisen wollten, was für ein schweres Leben sie hatten.

Heutzutage funktioniert das natürlich nicht mehr so richtig, denn die halbe Bevölkerung ist mittlerweile zugekritzelt. Schön ist das in den seltensten Fällen. Was früher vielleicht noch als Geschmacksverfehlung gnädig in den eigenen vier Wänden verborgen blieb, wird heute stolz auf der Haut getragen. Die eigene Epidermis ist für viele Menschen Leinwand, Tagebuch und öffentliches Familienalbum zugleich. Und was nicht mehr auf die Arschbacken oder zwischen die Schulterblätter passt, das wird dann bei Facebook reingekippt. Hauptsache es wird sichtbar. Zombie Boy hatte es geschafft, sich davon abzuheben, denn er hatte ein überzeugendes ästhetisches Konzept. Indem er die eigene Anatomie konsequent nach außen drehte, karikierte er auch den Exhibitionismus seiner Mitmenschen. Das war gut gemacht und auf diese spezielle Art schön anzusehen. Er war quasi ein wandelndes radioaktiv verstrahltes Gunther-von-Hagens-Testimonial, das selbst auf einer Tattoo-Messe noch auffallen konnte. Aber wie fühlt sich das wohl an, jeden Tag einen Totenkopf im Spiegel zu erblicken? Erinnert einen das an die eigene Sterblichkeit? Verliert man darüber irgendwann den Verstand? Jetzt ist es leider zu spät, ihn zu fragen. Es sei denn, er kehrt tatsächlich noch mal von den Toten zurück.

Seine Bekanntheit verdankte der Zombie Boy vor allem dem Stylisten und Moderedakteur Nicola Formichetti, der seinerseits Berühmtheit dadurch erlangte, Lady GaGa in einen Alien verwandelt zu haben. Formichetti war nicht der Erste, der stark tätowierte Models buchte, aber mit Zombie Boy hatte er wohl den Hauptgewinn gemacht, zumindest für ein bis zwei Saisons. Mehr kann man in der Modebranche nicht erwarten. Sie haben dort schon alles durch: Heroin-Chic, Nazi-Chic, Alien-Chic und nun eben auch Zombie-Chic. In Robert Altmans Film „Prêt-à-Porter“ wurde dieser Hang zu kalkulierten Schock-Effekten einst auf die Schippe genommen, als die Models dort auf einer der Schauen komplett nackt auf den Laufsteg geschickt wurden. Sie würden mittlerweile aber auch Skelette buchen, wenn das möglich wäre. Nicht einfach mehr nur unterernährte Teenager, keine Haut und Knochen, nein, nur noch Knochen. Wie das in etwa aussehen könnte, hat ihnen Zombie Boy zumindest schon mal gezeigt.

Die Kuratierung der Welt

An der Bushaltestelle am Hauptbahnhof sitzt ein dicker alter Mann im Rollstuhl und raucht Kette. Neben ihm steht eine leere Flasche Billigfusel auf dem Boden, dahinter lächeln drei junge Frauen in geblümten Blusen von einem H&M-Plakat. Ich stehe vor einer öffentlichen Plastik, einer Kunstinstallation, wie man sie in dieser Gegend häufig sieht. Diese hier nenne ich „Multiples Organversagen / Frühling / TXL“ . Mit ein wenig Geschick lässt sich damit sicher gutes Geld verdienen, denke ich. Alles, was ich dafür brauche, ist eine Kamera, einen zugekoksten Galeristen und eine unterbeschäftigte Kulturwissenschaftlerin, die mir einen Erklärtext für die Sammler drechselt, so in die Richtung „Soziale Materialien evozieren die Zyklizität menschlicher Existenz in fluiden Identitäten“… Bingo! In Berlin lassen sich an einem durchschnittlichen Wochenende die Werke von gut eintausend (mehr oder weniger erfolgreichen) zeitgenössischen Künstlern betrachten, am Gallery Weekend locker doppelt so viele. Nageln Sie mich bitte nicht auf diese Zahl fest, aber es wird wirklich ziemlich viel Zeug ausgestellt, es gibt hier inzwischen wahrscheinlich mehr Galerien als Gemüseläden. Irgendetwas lässt sich immer kuratieren. In der Brunnenstraße drehte sich letztes Jahr ein brasilianischer Performance-Künstler in Strapsen so lange im Kreis, bis er sich übergeben musste – ging für 20.000 Euro weg, Wertsteigerung garantiert. Künstler ist, wer sich dazu erklärt und dies von der richtigen Blase bestätigt bekommt. „Kann ick ooch!“ hustet der dicke Mann und rollt in den Sonnenuntergang, ich hinter ihm her.

Abgehängt

Die schönste Stellungnahme zu den Mighty Koalitionsverhandlungen kam in der vergangenen Woche von Julia Klöckner (CDU): „Wir haben uns auf die Beendigung des Kükenschredderns geeinigt“. Das werden die deutschen Küken sicher gerne hören. Weiterhin geschreddert werden darf aber im Bereich der Kunst, nun auch der bildenden. Auch hier gilt: wer öffentlich im Verdacht steht, etwas Unanständiges gesagt oder getan zu haben, wird physisch ab- und medial aufgehängt. So wurde James Franco inzwischen selbst zum „Disaster Artist“ (wenn Sie diesen Wink nicht verstehen, haben Sie in die letzten Monaten wahrscheinlich unter einem Stein gelebt, was nüchtern betrachtet gar keine so schlechte Entscheidung war). Abhängen, Entfernen, Zensieren, Herausschneiden und Notizzettel kleben – das sind die Instrumente der neuen Kulturrevolution. Und davon sind längst nicht mehr nur die Männer betroffen. Wie Ostberlins populärstes Revolverblatt bereits im letzten Herbst nach einer „Schock-Umfrage“ berichtete, fühlen sich 76 Prozent aller Berlinerinnen abgehängt. Die restlichen 24 Prozent fühlen sich mitgenommen.

Abgehaengt

Liebe Leserinnen und Leser, sollten Sie zufällig gerade in Seattle abhängen, besuchen Sie doch mal die Treason-Gallery. Die haben tatsächlich noch Werke von James Franco im Angebot. Der „Fette Hengst“ ist allerdings schon ausverkauft.

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„We project ourselves onto the world, humans see themselves in everything. The fat animals are us.“ (James Franco über seine „Fat Animals“-Serie)

Wir übergeben den Flammen die Werke von Kevin Spacey

Anders als ich an dieser Stelle locker-flockig prognostizierte, ist das Thema natürlich noch lange nicht durch. Es wäre wohl auch reichlich naiv, anzunehmen, Herr Weinstein wäre der einzige Schmuddelfink der Unterhaltungsindustrie gewesen. Und wenn es schon an der Spitze bröselt, sind die unteren Ebenen natürlich erst recht zum Abschuss freigegeben. Darf man sich als prominenter Schauspieler aus Gründen der allgemeinen Rufschädigung eigentlich auch selbst noch nachträglich aus einer Produktion herausschneiden lassen? Also zum Beispiel aus einem Film von Alfred Hitchcock, Roman Polanski oder Woody Allen? Wie ist das vertraglich geregelt?

Texte wie dieser fangen normalerweise mit einer moralischen Stellungnahme an. Wie also stehe ich nun dazu, dass sich Kevin Spacey Mitte der 80er Jahre mal besoffen auf einen 14-Jährigen Jungen gelegt haben soll? Oder dass sich Louis C.K. offenbar gerne vor seinen Kolleginnen einen runterholte? Verurteile ich das? Ich werde es Ihnen nicht verraten, denn genau das ist ein Teil des Problems im derzeitigen Empörungs-Karneval: dieser Drang zur Positionierung. Wo Spaceys frühere Arbeitgeber nur Schadensbegrenzung aufgrund befürchteter Umsatzeinbußen betreiben, tut eine großer Teil der dazugehörigen Branche weiterhin so, als ginge es hier ganz plötzlich um eine Null-Toleranz-Agenda im Sinne des Jugendschutzes und des Feminismus. Wie machen wir denn dann jetzt weiter, wo wir gerade beim großen Reinemachen sind? Vielleicht mit einer kleinen Bücherverbrennung? Ich denke da an die Werke von Paul Verlaine, der hatte bekanntermaßen ein sexuelles Verhältnis mit dem minderjährigen Arthur Rimbaud. Thomas Mann und Vladimir Nabokov, die alten Perverslinge, wären auch längst reif für den Scheiterhaufen – wehret den Anfängen! Und im Bereich der populären Musik sieht es dann richtig düster aus, am besten wir stampfen den gesamten Back-Katalog des letzten Jahrhunderts ein. Was für ein übler Haufen an Junkies und Päderasten!

„Vor 30, 40 Jahren hat man dem Künstler zugestanden, gewissermaßen ein halber Outlaw zu sein. Mittlerweile in unserer eben, wie ich sagen würde, hysterisch-bigott hypermoralisierten Gesellschaft, wo wir angeblich so viel toleranter sind und libertärer, erwarten wir von einem Künstler, dessen Antriebskraft natürlich auch das Abgründige sein muss, die Lust daran, über die Stränge massiv zu schlagen, – das sollen auf einmal alles brave Schwiegersöhne und Benimmlehrer sein? Das ist spießiger und furchtbarer als der Geist der 50er und 60er, wo der Bürger sagte, oh, oh, diese verkommenen Künstler, aber man ließ sie verkommene Künstler sein.“

(Thea Dorn im Interview mit dem Deutschlandfunk vom 10.11.2017)

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P.S. Kulturtipp des Tages: Halten Sie mal Auschau nach „Difficult People“, der großartigen Web-Comedy mit Billy Eichner, die seit mindestens drei Jahren Witze über Kevin Spaceys Privatleben reißt. You’re welcome!

Grauer Glanz

„It’s very difficult to keep the line between the past and the present.
You know what I mean?“
(Little Edie)

Es war wohl das gleichnamige Lied von Rufus Wainwright, das mich vor einigen Jahren dem Kult um „Grey Gardens“ näher brachte. Davor hatte ich bereits Fotos von dieser seltsamen Frau gesehen. Gekleidet in einen alten Pelzmantel, das Gesicht von einem dieser engen Kopftücher eingerahmt, die zu ihrem Markenzeichen werden sollten – so stand sie, die einstige Schönheit, inmitten ihres verwilderten Gartens und schaute traurig in die Kamera. Im Hintergrund die legendäre Ruine in East Hampton, ihr Zuhause, das sie sich mit ihrer Mutter, mehreren dutzend Katzen und mitunter auch einigen Waschbären teilte. Wenn ich für etwas eine Schwäche habe, neben der Musik von Rufus Wainwright, dann für alte Villen und für exzentrische Persönlichkeiten. Wie hätte ich mich da dem Zauber von Little Edie und ihrer glanzvollen Biographie entziehen können? Wer ihre Geschichte noch nicht kennt, kann sie unter anderem hier zusammengefasst nachlesen oder sich direkt auf „Grey Gardens“ einlassen, den vielleicht faszinierendsten Dokumentarfilm, der jemals gedreht wurde. Edith Bouvier Beale, geboren am 7. November 1917, wäre heute einhundert Jahre alt geworden.

Edie-Beale_Warhol_1976

“I’ve been a subterranean prisoner here for twenty years. If you only knew how I’ve loathed East Hampton, but I love Mother … they must have found out how I hated this house. They must have heard my scream.”
(„The Secret of Grey Gardens“, New York Magazine, 1972)


Abbildung: Little Edie / Polaroid von Andy Warhol

Alles dicht

Heute saß ich nach sehr langer Zeit wieder einmal in einem komplett zugesprühten S-Bahnwagen. Fenster dicht, Türen dicht, alles dicht. Der Zug als Burka. Frohsinn durchströmte mein Herz und Erinnerungen an die Bronx der frühen 80er wurden wach – bzw. an das, was ich davon damals aus dem Kino kannte, als „Beat Street“ die Hip-Hop-Kultur auch zu uns in die Karl-Marx-Allee schwappen ließ (wäre ich tatsächlich in der Bronx der frühen 80er aufgewachsen, läge mein Coolness-Faktor heute jenseits messbarer Maximalwerte). Nach dem Aussteigen konnte ich dann noch kurz einen Steppke beobachten, der sich von seinem Vater stolz vor der bunten Monster-Burka fotografieren ließ. Dann schlossen sich auch schon wieder die blickdichten Türen und der Wagen ratterte weiter. Graffiti in dieser Dimension und Konsequenz habe ich schon immer als große Kunst angesehen. Eine Kunst, die umso mehr an Wert gewinnt, je illegaler sie ausgeübt wird. Und wer wirklich konsequent ist, der besprüht keine Hinterhofwände, keine Trafos, Hauseingänge oder düstere Unterführungen. Nein, wer wirklich Eindruck hinterlassen will, der wählt sich einen nagelneuen jungfräulichen Wagen. So war es schon immer. Auf dass der Ruhm sich über jeden Bahnhof und jeden Instagram-Account verbreite! Dass so etwas heute überhaupt noch auffällt, beweist die nicht todzukriegende anarchische Kraft der Sprühkunst alter Schule, die bisher jede kommerzielle Vereinnahmung und auch die zwischenzeitliche Konkurrenz durch Banksy & Co. überlebt hat. Das kleinteilige und hässliche Getagge ist dagegen mittlerweile fast vollständig aus den öffentlichen Verkehrsmitteln verschwunden. Jugendlicher Vandalismus findet heute vorzugsweise digital statt – es sei denn, es wird gerade irgendwo Fußball gespielt. Übrig geblieben sind die Manischen, die Künstler mit verpixelten und vermummten Gesichtern, die den Zug noch immer als ihre einzig wahre Leinwand ansehen. So wie die Sprayer aus der Bronx damals. Fenster dicht, Türen dicht, alles dicht. Meinen Respekt an die Bande, die den Wagen zu verantworten hatte, in dem ich heute saß. Möge er noch lange durch die Stadt rollen!