Hätte sich die legendäre Erika Fuchs für Disneys „Lustige Taschenbücher“ einen Entenhausener Zeitungsreporter ausdenken müssen, so hätte sie ihn vermutlich Claas Relotius genannt. Sie hätte ihn vielleicht mit einem dubiosen Charakter, jeder Menge Ehrgeiz sowie einer blühenden Fantasie ausgestattet, ihn Journalistenpreise einheimsen und schließlich von Tick, Trick und Track öffentlich bloßstellen lassen. Vielleicht. Hätte es diesen Reporter nicht tatsächlich gegeben. Das traumhafte Zitat in der Headline stammt aus einem seiner preisgekrönten Artikel. Das Interessanteste an dem seit gestern tobenden Scheißesturm um den ehemaligen SPIEGEL-Schreiber Relotius ist gar nicht die Frage, was genau in dessen Texten nun wahr oder frei erfunden war. Interessant ist doch, dass es so lange nicht auffiel. Weil es so gut passte, weil sie dort eben immer so schreiben – ob über traurige Flüchtlingskinder, dumme Trump-Wähler oder ostdeutsche Nazis. Es ist immer die selbe tendenziöse, gefühlige Soße, da hilft auch kein Fact-Checking, das hat Methode. Und deshalb feiert man sich beim SPIEGEL nun für die Enthüllung im eigenen Haus eben mit genau dem selben elaborierten Reportage-Kitsch, der ihnen gerade erst das Genick gebrochen hat. Kann man sich nicht ausdenken? Doch, kann man.
Zum Nachlesen und rumschnattern:
Die Karriere des Reporters Claas Relotius wurde von einer Form von Journalismus ermöglicht, vielleicht sogar gemacht, die Fiktionen und Fakten miteinander vermischt und die Rolle des Erzählers über die des Rechercheurs stellt. Eine Form des Journalismus, die sich mit Reporterpreisen selbst feiert, die politische Aktivisten wie Michael Moore mit Dokumentarfilmern verwechselt und die es für eine besondere Leistung hält, den Nachrichtenkern von Enthüllungen wie den „Panama-Papers“ unter Abertausenden von schön formulierten Sätzen zu vergraben. Fühlen, was sein könnte – statt sagen, was ist. („Fühlen, was sein könnte“, Salonkolumnisten)
Relotius has received accolades for his daring quest to live among us for several weeks. And yet, he reported on very little actual truth about Fergus Falls life … which begs the question of why Der Spiegel even invested in Relotius’ three week trip to the U.S., whether they should demand their money back from him, and what kind of institutional breakdown led to the supposedly world-class Der Spiegel fact-checking team completely dropping the ball on this one. („Der Spiegel journalist messed with the wrong small town“, Medium)
Und schließlich, weil immer wieder passend: „In der Tat ist Der Spiegel keineswegs ein Nachrichtenblatt. Der redaktionelle Inhalt besteht vielmehr aus einer Sammlung von ‚Stories‘, von Anekdoten, Briefen, Vermutungen, Interviews, Spekulationen, Klatschgeschichten und Bildern. Gelegentlich stößt der Leser auf einen Leitartikel, eine Landkarte, eine statistische Tabelle. Unter allen Mitteilungsformen kommt diejenige am seltensten vor, nach der das Magazin benannt ist: die schlichte Nachricht. („Die Sprache des Spiegel“, Hans Magnus Enzensberger, 1957)