Ein Stern in dunkler Nacht

Nach „Trump ist Hitler“, „Greta ist Gott“, „Warum das Internet uns alle anlügt“ und den „zehn wichtigsten Yoga-Übungen gegen Analkrebs“ läuft die STERN-Redaktion zum Jahresende noch einmal zur Höchstform auf und beweist mit ihrem aktuellen Titel, dass sie in Sachen Gesinnungskitsch in Deutschland auch weiterhin die Nase vorn hat. Lesen Sie in der neuen Ausgabe also, wie das Christkind die Firma Pfizer segnete, mit welcher antibakteriellen Seife Maria Magdalena die Füße von Dr. Drosten wäscht und warum Moses sich das Kanzleramt zutraut.

Liebe Leser, liebe Gemeinde, sehr verehrte Schafe und Nächstenliebende, ich möchte an dieser Stelle meine Musik-Tipps vom letzten Dezember wiederholen und noch um diese eine Perle ergänzen. Gesegnete Dröhnung!

What the Fakt?

Hat sich jemand da draußen Sorgen um Claas Relotius gemacht? Vielleicht mal ab und zu seinen Namen gegoogelt, um sicher zu gehen, dass er noch nicht aus dem Fenster gehüpft ist? Keine Sorge, Relotius heißt nicht Hingst, der ist psychisch stabil und schreibt wahrscheinlich gerade irgendwo an seinen Memoiren. Und zwischendurch geht er juristisch gegen seinen ehemaligen Kollegen Juan Moreno vor, wegen angeblicher Falschaussagen in dessen Buch „Tausend Zeilen Lüge“. Der selbe Journalist, der ihn beim Lügen erwischte, wird also nun wiederum von ihm beim Lügen erwischt. Das ist so schön, dass konnte ich nicht ganz unerwähnt lassen. SPIEGEL – the gift that keeps on giving. Nächste wahrscheinliche Eskalationsstufen: Moreno verklagt Relotius wegen Rufschädigung, Relotius verklagt Moreno wegen Mobbing, Moreno verklagt sich selbst, Relotius zieht vors Bundesverfassungsgericht, Moreno zieht ins Kloster, Relotius erhält schließlich den Felix-Krull-Preis in Alu für sein Lebenswerk und die Kanzlerin tippt „Fake News“ in die Suchmaschine.

What

„Manchmal, im Traum, erscheint ihnen Angela Merkel.“ (Stories und andere Enten)

Hätte sich die legendäre Erika Fuchs für Disneys „Lustige Taschenbücher“ einen Entenhausener Zeitungsreporter ausdenken müssen, so hätte sie ihn vermutlich Claas Relotius genannt. Sie hätte ihn vielleicht mit einem dubiosen Charakter, jeder Menge Ehrgeiz sowie einer blühenden Fantasie ausgestattet, ihn Journalistenpreise einheimsen und schließlich von Tick, Trick und Track öffentlich bloßstellen lassen. Vielleicht. Hätte es diesen Reporter nicht tatsächlich gegeben. Das traumhafte Zitat in der Headline stammt aus einem seiner preisgekrönten Artikel. Das Interessanteste an dem seit gestern tobenden Scheißesturm um den ehemaligen SPIEGEL-Schreiber Relotius ist gar nicht die Frage, was genau in dessen Texten nun wahr oder frei erfunden war. Interessant ist doch, dass es so lange nicht auffiel. Weil es so gut passte, weil sie dort eben immer so schreiben – ob über traurige Flüchtlingskinder, dumme Trump-Wähler oder ostdeutsche Nazis. Es ist immer die selbe tendenziöse, gefühlige Soße, da hilft auch kein Fact-Checking, das hat Methode. Und deshalb feiert man sich beim SPIEGEL nun für die Enthüllung im eigenen Haus eben mit genau dem selben elaborierten Reportage-Kitsch, der ihnen gerade erst das Genick gebrochen hat. Kann man sich nicht ausdenken? Doch, kann man.

Zum Nachlesen und rumschnattern:

Die Karriere des Reporters Claas Relotius wurde von einer Form von Journalismus ermöglicht, vielleicht sogar gemacht, die Fiktionen und Fakten miteinander vermischt und die Rolle des Erzählers über die des Rechercheurs stellt. Eine Form des Journalismus, die sich mit Reporterpreisen selbst feiert, die politische Aktivisten wie Michael Moore mit Dokumentarfilmern verwechselt und die es für eine besondere Leistung hält, den Nachrichtenkern von Enthüllungen wie den „Panama-Papers“ unter Abertausenden von schön formulierten Sätzen zu vergraben. Fühlen, was sein könnte – statt sagen, was ist. („Fühlen, was sein könnte“, Salonkolumnisten)

Relotius has received accolades for his daring quest to live among us for several weeks. And yet, he reported on very little actual truth about Fergus Falls life … which begs the question of why Der Spiegel even invested in Relotius’ three week trip to the U.S., whether they should demand their money back from him, and what kind of institutional breakdown led to the supposedly world-class Der Spiegel fact-checking team completely dropping the ball on this one. („Der Spiegel journalist messed with the wrong small town“, Medium)

Und schließlich, weil immer wieder passend: „In der Tat ist Der Spiegel keineswegs ein Nachrichtenblatt. Der redaktionelle Inhalt besteht vielmehr aus einer Sammlung von ‚Stories‘, von Anekdoten, Briefen, Vermutungen, Interviews, Spekulationen, Klatschgeschichten und Bildern. Gelegentlich stößt der Leser auf einen Leitartikel, eine Landkarte, eine statistische Tabelle. Unter allen Mitteilungsformen kommt diejenige am seltensten vor, nach der das Magazin benannt ist: die schlichte Nachricht. („Die Sprache des Spiegel“, Hans Magnus Enzensberger, 1957)