Das hat mir der Teufel gesagt

Auf der Ringbahnstrecke zwischen Gesundbrunnen und Schönhauser Allee, Berlins größter öffentlicher Graffiti-Galerie, hat jemand EINZELTÄTER? an eine Mauer gepinselt. Ein Wort, eine Frage, in zwei Meter hohen Lettern. Ich lese das kurz nachdem ich die Dokumentation „Sons of Sam“ (man beachte den Plural im Titel) gesehen habe. Dort wird die These aufgewärmt, dass der berüchtigte „Son of Sam“ David Berkowitz eben kein Einzeltäter gewesen sei, und ich danke den dunklen Mächten des Universums wieder einmal für diesen hübschen kleinen Wink. Nennen Sie es Zufall, ich nenne es exzentrischen Magnetismus. Während die S-Bahn weiter rattert, denke ich also darüber nach, ob der pummelige New Yorker Postangestellte Berkowitz damals tatsächlich nur das Bauernopfer für ein landesweit operierendes okkultes Netzwerk war, so wie es der Journalist Maury Terry (um den es in „Sons of Sam“ eigentlich geht), bis zum Ende seines Lebens behauptet hat. Terry tingelte mit seiner Theorie jahrzehntelang durch die Öffentlichkeit, bei der Polizei stieß er trotz zahlreicher Indizien aber nur auf taube Ohren. Sein Buch „The Ultimate Evil“ wurde zum Bestseller und befeuerte die Satanismus-Panik der amerikanischen Medien Ende der 80er Jahre, als christliche Tugendwächter praktisch überall versteckte satanische Botschaften entlarvten, ob in rückwärts gespielten Heavy-Metal-Platten oder bei den Schlümpfen. Zur dieser Zeit saß David Berkowitz längst im Gefängnis und las brav die Bibel. Heute wird er 68 Jahre alt. Er teilt sich diesen Geburtstag unter anderem mit Marilyn Monroe, Morgan Freeman und Heidi Klum. Happy Birthday und Hail Satan! 

Live to tell

Polizeisirenen von allen Seiten. Ein Dutzend Einsatzwagen penetriert die ohnehin chronisch verstopfte Kreuzung Torstraße/Brunnenstraße, dazu noch ein paar Rettungswagen, Tatüütataa! An Krach ist man an hier gewöhnt, aber was ist denn nun schon wieder los? Ein illegaler Kindergeburtstag? Hat der kleine Rutger-Cornelius den Sicherheitsabstand nicht eingehalten? Polizei! Zugriff! Notbremse! Zwangsjacke! Ausgangssperre! Wasserwerfer! Mehr Bullerei sieht man hier nur, wenn am Alex oder am Rosa-Luxemburg-Platz demonstriert wird. Meistens am Samstag. Manchmal auch am Donnerstag, oder am Montag, Dienstag und Mittwoch. Tatüütataa! Erzählen Sie mal einem Taxifahrer, dass Sie über die Torstraße fahren wollen, der schmeißt Sie unter tausend Flüchen und Verwünschungen sofort aus seinem Wagen. Oder er berechnet Ihnen 500 Euro pauschal, Barzahlung im voraus. Und schmeißt Sie dann trotzdem noch raus. Ein gottverdammtes, dysfunktionales, zugeschissenes Nadelöhr ist diese Straße. Die einzigen, die hier wirklich ungestört durchkommen, sind die zahlreichen Essens-Auslieferer in ihren hellblau oder orange gefärbten Alufolien-Rikschas. Aber die wurden ja auch im indischen Straßenverkehr ausgebildet. Es hilft tatsächlich, sich eine beliebige Kreuzung in Mumbai oder Bangalore vorzustellen, dann erscheint einem das alles hier schon wesentlich entspannter. Ich war noch nie in Indien, habe aber mal eine Woche im Zentrum von Istanbul verbracht, danach stand ich kurz vor einem Hörsturz und Berlin kam mir vor wie ein Dorf. Reisen macht diese Stadt immer noch erträglich.

Kurz vor der nächsten Kreuzung hat jemand „Webdesign“ über seinen Laden meißeln lassen, direkt ins Mauerwerk. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde das lustig, dass da „Webdesign“ steht, in Stein gehauen, als Teil der Architektur, für die nächsten hundert Jahre. Über der Einfahrt zur Schönhauser thront eine voluminöse Mama in knappen Dessous. Die Marke Dove macht noch immer Werbung mit dicken Models, offenbar sehr erfolgreich. Es macht durchaus Sinn: Je mehr Quadratmeter Haut, desto mehr Bodylotion wird gebraucht. Ist Ihnen übrigens schon mal aufgefallen, dass auf der Welle der Body Positivity und Plus Size Models immer nur Frauen reiten? Haben Sie schon mal irgendwo unironisch ein übergewichtiges Männermodel gesehen? Irgendwo?

An der Ecke Prenzlauer Allee steht das Soho House. Hier hat mal Madonna gewohnt, während einer ihrer Berliner Gastspiele. Gerüchten zufolge hatte sie die gesamte obere Etage gemietet und renovieren lassen. Nur für eine Woche. Ihr hat wohl die Wandfarbe nicht gefallen. Vielleicht hatte der Seifenspender im Master Bad auch das falsche Aroma. Nur der Denkmalschutz konnte sie davon abhalten, das komplette Gebäude zu sprengen und ein neues Domizil nach ihrem Gusto zu errichten. Wenige Kilometer weiter östlich habe ich im Zimmer eines Schulfreundes einst heimlich einen Fanbrief an Madonna gelesen. Er hatte ihn an irgendein westdeutsches Autogrammbüro adressiert, das er in der Bravo gefunden hatte. Ich habe ihm nie erzählt, dass ich diesen Brief gelesen hatte, weil ich dachte, dass ihm das peinlich sein könnte. Damals war gerade „Live to tell“ erschienen. A man can tell a thousand lies, I’ve learned my lesson well … Madonna sah plötzlich anders aus. Eine neue Frisur, ein neues Image, in den folgenden Jahrzehnten sollte das natürlich zur Routine werden. Nicht im Traum hätten wir uns vorstellen können, dass diese Frau eines Tages in dem ehemaligen SED-Bunker absteigen würde. An der Torstraße Nr. 1, damals noch Wilhelm-Pieck-Straße. Das heutige Soho House hat mehr bizarre Wandlungen mitgemacht als das mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit aufgepumpte Gesicht von Madonna. Was ist nur aus dir geworden, Frau Ciccone? Was ist aus uns geworden? Wahrscheinlich genau das, was zu erwarten war. Noch mit 70 wirst du dich in Strapsen auf dem Boden wälzen und „We need a Revolution“ stöhnen. Mit einer halben Milliarde Dollar auf dem Konto und Luxus-Villen weltweit. Während wir immer noch über den Berliner Straßenverkehr stöhnen.

Auf der Strecke zwischen Prenzlauer Allee und dem Platz der Vereinten Nationen (Goodbye Lenin!) beruhigt sich der Verkehr kurzzeitig. Nur um weiter oben vom nächsten Sirenen-Inferno empfangen zu werden. Es bleibt, wie es war – chronische Verstopfung, Kollaps, Kindergeburtstag, Madonna hat ein neues Gesicht und im Nahen Osten brennt mal wieder die Hütte. Tatüütataa! What else is new?

Entdeckungen

Ich dachte, ich kenne die Welt. Bis ich Anfang dieser Woche an der Botschaft von Dschibuti vorbeilief. Dschibuti, Dschibuti … was zur Hölle ist Dschibuti und wo liegt das? Mein Leben lang wähnte ich mich sicher in Erdkunde, berichtete hier sogar über stolze Mikronationen wie die freie Republik Molossia und das Königreich Ur, dabei ist mir in all den Jahren ein ganzes Land in Westafrika durch die Lappen gegangen! Ein herzlicher Gruß geht an dieser Stelle also an die Bewohner der Republik Dschibuti, die ich als Teil der Völkergemeinschaft bisher so sträflich übersehen hatte. Meine Wissenslücke war schnell aufgefüllt: seit 1977 unabhängig, weitgehend islamisiert, geopolitisch interessant gelegen, touristisch bisher aber wenig erschlossen, dümpelt Dschibuti am unteren Ende der Hitliste der Nationen vor sich hin. Das Wetter ist heiß, die Arbeitslosigkeit hoch und die allgemeine Lebensqualität liegt nur knapp über der von Mönchengladbach. Vielleicht wurde die Botschaft von Dschibuti auch deshalb in einen eher unscheinbaren Bürobau in der Kurfürstenstraße verfrachtet, immerhin sehr zentral gelegen, in fast direkter Nachbarschaft zum Zoologischen Garten. 

Was mich zu einem anderen Thema bringt: Die Kinder vom Bahnhof Zoo sind zurück. Nicht auf der Straße, aber auf Amazon Prime. Ich habe nur den Trailer gesehen, war damit aber bereits ausreichend bedient. Um Authentizität ging es bei der Geschichte ja noch nie, eher um Voyeurismus. Christiane F. wurde genau in dem Moment zur modernen Folklore, als ein paar notgeile STERN-Reporter deren verkorkste Jugend zum Bestseller hochschrieben. In Uli Edels Kinoversion von 1981 wurde aber wenigstens noch berlinert, und der echte David Bowie stand noch auf der Bühne. Die neue Serien-Verfilmung sieht dagegen aus wie Babylon Berlin, nur mit 70er-Jahre-Tapeten – aufgemotzter Kulissenkitsch, wie man ihn von den historisch angemalten deutschen Großproduktionen der letzten Jahre kennt. Nein, Danke.

Derart angestachelt, werde ich hier demnächst auch wieder etwas zu Filmen und Serien schreiben, die ich tatsächlich gesehen und für bemerkenswert befunden habe, im positiven wie auch negativen Sinne. Da hat sich in den vergangenen Monaten einiges angesammelt, das noch auf mein strenges Urteil wartet. Vielleicht entdecke ich in der Zwischenzeit ja sogar noch ein paar neue Botschaftsgebäude und Kleinstaaten.

30 Seconds of Calm

Rund um das Märkische Museum ist es gespenstisch ruhig, ein akustisch toter Winkel in der sonst so lauten Stadt. Läuft man ein paar hundert Meter in eine beliebige Richtung, schwillt der Lärm wieder an. Nur hier ist es ruhig. Selbst der kleine Kinderspielplatz vorm alten Bärenzwinger kommt dagegen nicht an. Die Stille schluckt jedes Geräusch. Der Verkehr wird von einer derzeit stillgelegten Großbaustelle abgeschirmt, die angrenzenden Institutionen und Büros liegen noch im postapokalyptischen Lockdown-Schlaf. Hinter dem Museum steht das Haus am Köllnischen Park, eine ehemalige SED-Parteischule, architektonisch zumindest interessant, heute ein privater Apartment-Komplex, der sich in den nächsten Jahren noch ausdehnen wird – nur eben jetzt nicht. Jetzt ist Ruhe. Auf der anderen Seite schlummert der kleine Agenturturm von Media Consulta vor sich hin, dort habe ich vor ca. 15 Jahren mal gearbeitet. Fast jeder, den ich aus der Branche kenne, hat schon mal bei Media Consulta gearbeitet. Deren Kunden sind die Regierung, die EU und alle, die davon profitieren. Die Agentur selbst habe ich als Ameisenhaufen in Erinnerung, jeden Tag neue Gesichter, neue Email- und Telefon-Listen, zwölf Sprachen wurden gesprochen, was für ein Gewusel. Und jetzt ist Ruhe.

Auf CNN gibt es einen Pausenfüller, den nennen Sie „30 Seconds Of Calm“. Dort werden Segelboote gezeigt oder buddhistische Mönche, die Schriftzeichen pinseln – was man aufgekratzten Nachrichten-Junkies eben so als Entspannung unterjubelt. Mehr als 30 Sekunden dauern die Clips tatsächlich nicht, danach geht der Dauerbeschuss weiter: Breaking News, Bombshells und wackelige Live-Bilder, die Welt als epileptischer Daueranfall. „30 Seconds Of Calm“ ist die Beruhigungspille, die man ohne CNN gar nicht bräuchte. Am Märkischen Museum gibt es 30 Minuten of Calm, vielleicht auch noch 30 Tage, länger wohl nicht.

Der große Zukunftsschwindel

Ich laufe durch den Hauptbahnhof, vorbei an den digitalen Werbesäulen. „Kai Pflaume wird heute 53 Jahre alt!“ wird mir mehrmals mitgeteilt. Na, wer hätte das gedacht!? 53 Jahre! Das alte Schwiegersöhnchen! Moderiert nun schon seit Jahrzehnten tapfer alles weg, was Schwiegermüttern gefällt. Schwiegertochter gesucht. Oder Schwiegereltern im Glück. Goldene Hochzeit. Schwippschwagers Traumhochzeit. Herzblatt. Herzkranzgefäß. Herzkranke Schwiegermutter heiratet den Schwiegersohn sein Nachbarn seine Katze … Irgendsowas. Hier im Bahnhofsgebäude ist es vergleichsweise ruhig. Gerade erst habe ich den großen Reisebus-Protestkorso überlebt. Schönes Chaos mal wieder. Zehntausend Busse, die die Innenstadt verstopften, weil sie jetzt bitte auch Corona-Geld von der Regierung haben wollen – so wie die Lufthansa oder wer auch immer gerade wieder aus dem großen Steuertöpfchen naschen durfte. Dabei hupten die verdammten Busse so laut, dass den genervten Passanten die Trommelfelle platzten und nun erst Recht niemand mehr Mitleid mit der Branche hat. Läuft.

Vor dem Futurium dreht sich ein riesiger Teller auf einem ebenso riesigen Stab. Ich sehe das heute zum ersten Mal. Was ist das? Ein Gruß aus der Zukunft? Eine fliegende Untertasse mit abgekacktem Motor? Das neueste Physikprojekt der 5b aus der Gesamtschule Hellersdorf? Ein Denkmal für den mentalen Zustand Berlins? Die Untertasse scheint jeden Moment abzuheben und in die Spree zu sausen. Ich darf nicht zu lange hinschauen, sonst wird mir schwindelig. Schon spüre ich einen leichten Kreisel im Kopf. Im Futurium selbst war ich noch nicht drin. Kein Ahnung, was die da machen. Wahrscheinlich was ähnliches wie im Muppet-Labor, „wo die Zukunft schon heute gemacht wird.“ Dr. Bunsenbrenner, übernehmen Sie! Die Stadt schein langsam wieder zu ihrer alten Form hochzulaufen. Immer im Kreis. Und Kai Pflaume wird heute 53 Jahre alt. Muss man wissen.

Der Meister bringt euch alle um!

Da lobte ich in meinem vorletzten Beitrag also den Pestarzt (natürlich nur ganz vorsichtig, der Mann ist Masochist, zu viel Zuckerbrot verträgt er nicht), schon lobte er mich ausdrücklich zurück, was mir kurzzeitig wieder einmal Klickzahlen in galaktischen Dimensionen bescherte. Herzlichen Dank dafür … ach nein, sorry, in den Staub mit dir, du Hurensohn, *Peitsch!* Auf jeden Fall scheint mir dies ein passender Anlass zu sein, dessen liebreizende Energie auch mal in meinem Blog zu channeln. Denn glauben Sie mir, heute habe ich wirklich Grund dazu.

Wie kam ich auch auf die hirnrissige Idee, an einem Sonntag ans andere Ende der Stadt gelangen zu wollen? So ganz ohne Helikopter oder privaten Düsenjet? Bin ich vielleicht bescheuert? Ja, bin ich, denn ich wusste nicht, dass heute „Marathon“ war. Weil ich nämlich nicht ununterbrochen Lokalnachrichten höre oder schaue. Weil es mich nun mal nicht sonderlich tangiert, ob Oma Uschi in einem Moabiter Späti ausgeraubt oder transophob beleidigt wird, ob in Lichtenberg ein Dachgeschoss ausbrennt oder die Abou-Chaker-Brüder gerade mal wieder irgendwo Party machen. Oder ob irgendwer schon wieder um die Wette rennt. Derart ahnungslos bestieg ich also Mittags ein Taxi, denn ich hatte es eilig und außerdem regnete es auch noch in Strömen. Als ich dem türkischen Daddy mein Ziel nannte, verfiel dieser sofort in ein mächtiges Gejammer: Oh nein, mein Guter, oh, oh, oh, junger Mann, Meister, ach, ach, ach, da kommen wir ja gar nicht hin, ist ja alles gesperrt, alle laufen zu Fuß! Musst du laufen, Meister! Zu Fuß nach Steglitz laufen, dachte ich, bist du nicht mehr ganz dicht? Da tönte es auch schon aus dem Autoradio: Hallo, hier ist Radio Marathon! Mit den neuesten Marathon-Nachrichten und dem Superduper-Marathon-Gewinnspiel! HimmelarschundKünast, nicht schon wieder! Hatten wir hier nicht gerade erst einen dieser überflüssigen beschissenen Idioten-Marathons? Können diese abgemagerten Irren nicht einfach durch die Uckermark rennen oder meinetwegen über den Himalaya? Wieso immer ausgerechnet durch Berlin, das auch so schon jedes Wochenende den Verkehrskollaps macht? Wird schon nicht so schlimm werden, rief ich dem Jammer-Daddy zu, fahren Sie einfach irgendwie drum herum. Jetzt wurde sein Geheule noch lauter, er zählte eine Million Straßennamen auf und verfiel in einen langen Entschuldigungs-Singsang: Nicht böse sein, Meister, nicht böse sein, geht nicht, Meister, geht nicht, geht nicht! Irgendwann ging es wirklich nicht mehr. Alles gesperrt. Für diese durchnummerierte Trampelherde und ihren trommelnden Jubelmob. Ich schleppte mich zum nächsten U-Bahnhof. Scheiß Lärm, Scheiß Wetter, Scheiß Chaos! Gottverdammter Scheiß Marathon! Letzteres schrie ich dann auch einem nölenden Obdachlosen-Zeitungsverkäufer entgegen, irgendeiner muss es ja abbekommen. Wären jetzt noch ein paar verpeilte Touristen, Spendensammler oder Amnesty-Hüpfer mit ihren Unterschriften-Listen vor mir aufgetaucht („Huhu, duhu, warum so eilig?“), wäre Blut geflossen, ganz sicher. Nicht böse sein, Meister, nicht böse sein! Irgendwann landete ich am Innsbrucker Platz, natürlich war die Hölle auch hier noch nicht zu Ende. Kein Bus, kein Taxi, nur noch mehr Rennspacken und Jubeltrommler. *Rassel-rassel-trommel-trommel-jubel-kreisch!* Musst du laufen, Meister! So lief ich also, musste ich ja, ungefähr drei Kilometer durch den Regen, mit Laptop unterm Arm und gefühlten zehn Zentner Gepäck. Kein Ende in Sicht. Denn der nächste Scheiß Marathon kommt bestimmt. Am liebsten hätten sie es hier das ganze Jahr über so: abgesperrt, eingezäunt, lahmgelegt, verkehrsberuhigt, autofrei. Extinction Klima Radfahr Wettrenn Sambatrommel Arschloch Rebellion.

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„Hundert mal hab ick Berlin verflucht …“ schunkelte Helga Hahnemann einst durchs Schlagerradio. Helga Hahnemann? Kennste? Kennste? Kennste? Die Gute schunkelt nun schon seit Jahrzehnten unter der Erde weiter und muss sich dieses verdammte prekäre Hippie-Drecksloch von Stadt nicht mehr jeden Tag antun. Niemals habe ich Berlin so sehr gehasst wie heute. Ich darf das, denn ich bin hier geboren. Und so wahr mir die heilige Helga helfe, ich werde diesen verfluchten Laden irgendwann eigenhändig abfackeln. Hundert mal, wenn’s sein muss. Niederbomben. Pulverisieren. Dagegen war 1945 ein Spaziergang. Freut euch drauf, ihr trommelnden, johlenden Arschlöcher! Gut jetzt? Nein.

Ich kaufe mir eine Zeitung

Ich habe mir in dieser Woche die Berliner Zeitung gekauft. Es war nur eine einzige Print-Ausgabe, aber da ich das so selten tue, halte ich es für eine sehr bemerkenswerte Mitteilung. Es geht mir da wohl ähnlich wie den neuen Besitzern des Blattes (die in eben jener Ausgabe auch vorgestellt wurden). Nach eigenen Angaben lesen Bruder Rauschebart und Gattin seit 15 Jahren keine Berliner Zeitung mehr. Und haben deshalb gleich mal den gesamten Verlag gekauft. Das Ehepaar Friedrich beschreibt die Investition als „zivilgesellschaftliches Engagement in bewegten Zeiten“. Hui, hallo, hurra! Engagiert, zivil, Gesellschaft, bewegt, Zeiten und so … was man eben in so einem Fall öffentlich verkündet. Wahrscheinlich haben sie den Laden gerade einfach nur sehr günstig ersteigert (der Vorbesitzer versucht ihn schließlich schon seit Jahren wieder abzustoßen), aber das klingt natürlich viel zu profan.

Erst kommt das Saufen, dann kommt die Moral

Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen
Und man fragt: Was ist das für ein Geschrei?
Und man wird uns lächeln sehn bei unsren Gläsern
Und man sagt: Was lächeln die dabei? …*

Freitagnachmittag am Spreeufer. Wenige Schritte vom Berliner Ensemble entfernt, lebt der Geist von Bertolt Brecht auf einer Karte weiter, die über 50 einheimische Weißweine aufführt. Brechts Steakhaus müsste eigentlich Brechts Rieslinghaus heißen. Auf Nachfrage empfiehlt uns der pfiffige Kellner einen der billigsten, denn „den trink ick ooch immer jerne!“. Wir vertrauen dem guten Mann sofort, bestellen davon gleich zwei Flaschen, dazu nur eine kleine Käseplatte, und empfehlen uns somit als Alkoholiker alter Schule. Der Stoff ist auch auch dringend nötig, denn der Großteil der übrigen Gäste besteht, wie an dieser Ecke nicht anders zu erwarten, aus einem grauenhaft gekleideten Touri-Pöbel. Zweihundert Meter weiter nördlich geht es visuell nicht ganz so barbarisch zu. Die Arbeitsbienen aus den Büros der Reinhard- und Schumannstraße, die ich kurz zuvor hinter mir gelassen hatte, diese ganzen Pitcher und Pusher, Coder und Kicker, Mover und Shaker, Lobbyisten und Strategen, die flitzen noch in halbwegs akzeptablen Klamotten durch die Gegend. Aber hier unten am Ufer sind die Leinen los, hier ist die große internationale Mutanten-Fiesta in vollem Gange. Speckschwarten quellen unter knappen Freizeitfetzen hervor. Man möchte spontan erblinden oder sich zwei ultrastarke Sonnenbrillen übereinander aufsetzen. Berlin lebt von diesem hässlichen Mob, die Pitcher und Pusher bringen wohl noch nicht genug rein. Watt soll man machen, wa, Prost, runter mit dem Zeuch, denn den trinkt der Kellner ooch immer jerne! Ich werde angerufen, in Moabit gab es eine Schießerei, überall Polizei, Großfahndung, ich soll die Turmstraße möglichst meiden. Der Täter floh auf einem Fahrrad. Auf einem Fahrrad. Wer möchte denn von einem Fahrradfahrer erschossen werden? Auf der Flucht hat er wahrscheinlich noch Pfandflaschen zurückgebracht. Diese Stadt ist wirklich das letzte. 

*frei nach:

Tropicalismo (É Proibido Proíbír)

Heute brennt die Sonne ganz erbarmungslos, in der Hölle ist die Hitze halb so groß! Diese Zeilen habe ich mir aus dem schaurig-schönen DDR-Musikfilm „Heißer Sommer“ geborgt. Wenn’s passt, dann passt’s. Vor knapp 30 Jahren, um die Wendezeit herum, ritt der Film auf der ersten großen Ostalgie-Welle durchs Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz. Es gab dort damals diese Kult-Vorführungen a’la Rocky Horror Picture Show, die Leute rasteten aus, sangen mit und schmissen Dederon-Badehosen auf die Leinwand – so wurde es mir zumindest erzählt, denn selbst war ich nie dabei. Kurz nach dem Mauerfall stand mir noch nicht der Sinn nach DDR-Kitsch. Für einen Kultur-hungrigen Heranwachsenden gab es in dieser Zeit einiges in der Welt zu entdecken – Frank Schöbel und Chris Doerk beim Gummi-Twist an der Ostsee gehörten für mich nicht unbedingt dazu. Heute aber ist der Abstand groß genug, und wie gesagt: wenn’s passt, dann passt’s. 

swim-trunks

Zum Einstieg in den Berliner Tropensommer habe ich mir gestern Abend Caetano Veloso im Tempodrom angeschaut. Der Altmeister des Tropicalismo ist derzeit mit seinen drei Söhnen auf Tournee. Ein sehr schönes Konzert war das, mit genau der richtigen Mischung aus Poesie, Entspannung und südamerikanischer Party-Stimmung (mit Badehosen wurde nicht geworfen). Auch wenn es auf der Bühne nicht wirklich Thema war, ist die Politik seines Heimatlandes von der Biographie Caetano Velosos nicht zu trennen. Sein Lied É Proibido Proíbír (Es ist verboten, zu verbieten) führte 1968 dazu, dass er zusammen mit Gilberto Gil inhaftiert wurde und später für einige Jahre ins Exil ging. Die aktuelle politische Situation in Brasilien bereitet Veloso also verständlicherweise auch entsprechende Sorgen. Und ich denke daran, dass hier mittlerweile ein Teil des Landes mal wieder vom Sozialismus träumt (die wievielte Ostalgie-Welle wäre das jetzt?), ein anderer Teil vom Nationalsozialismus und daran, wie die grüne Mitte den Weltuntergang immer hitziger von der Kanzel predigt. Mit Verboten würden die alle gerne arbeiten. Die neue, gerechte Welt soll möglichst streng herbei reguliert werden. So sieht er dann wohl aus, der Sommer 2019: alle bekloppt, zu viel Dampf unter der Mütze. Ja, in der Hölle ist die Hitze halb so groß! Das liegt wohl leider nicht nur am Wetter. Es wird Zeit, die Koffer zu packen.

Club der Visionäre

Burn down the disco
Hang the blessed DJ
Because the music that they constantly play
It says nothing to me about my life
(The Smiths, Panic)

Der Club der Visionäre ist abgebrannt – eines dieser hippiesken Open-Air-Kleinode an der Spree, wo man gerne von einem Bein auf’s andere wippte und sich dabei von Mücken zerstechen ließ. Ich war vor einigen Sommern auch mal dort, verbinde aber keine besonderen Erinnerungen mehr damit. Weil es eben auch kein so besonderer Ort war – vielleicht ein bißchen wie die alte Bar 25, aber nicht so exklusiv und verpeilt. Keine neue Musik, keine neuen Eindrücke, wirklich nichts Neues, geschweige denn Visionäres gab es dort. Ein schlimmes Drama soll der Brand aber nun sein, quasi die Notre Dame von Kreuzberg/Treptow, und schon wird wieder vom großen Club-Sterben geredet. Ja, wenn in Berlin nicht jede marode Bretterbude mindestens ein halbes Jahrhundert lang unverändert bespielt werden kann, ist immer vom großen Club-Sterben die Rede, von Gentrifizierung und Weltuntergang. Wann hat das eigentlich angefangen? Waren wir hier nicht mal dafür bekannt, jede Woche umzuziehen, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, im Zweifelsfall alles abzufackeln, den DJ aufzuhängen und woanders wieder neu anzufangen? Nein? Habe ich das vielleicht nur geträumt? Oder war das doch nur der Zweite Weltkrieg? Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass meine Eltern in den 80er Jahren darüber gejammert hätten, dass ihr Lieblings-Tanzschuppen von 1962 dicht gemacht hätte. Man ging mit der Zeit, hat sich selbst weiter entwickelt. Das neue Berlin aber entwickelt sich nicht mehr, es will ein Museum bleiben. Ein fair gehandelter Schluck Club Mate, ohne Visionen.