Live to tell

Polizeisirenen von allen Seiten. Ein Dutzend Einsatzwagen penetriert die ohnehin chronisch verstopfte Kreuzung Torstraße/Brunnenstraße, dazu noch ein paar Rettungswagen, Tatüütataa! An Krach ist man an hier gewöhnt, aber was ist denn nun schon wieder los? Ein illegaler Kindergeburtstag? Hat der kleine Rutger-Cornelius den Sicherheitsabstand nicht eingehalten? Polizei! Zugriff! Notbremse! Zwangsjacke! Ausgangssperre! Wasserwerfer! Mehr Bullerei sieht man hier nur, wenn am Alex oder am Rosa-Luxemburg-Platz demonstriert wird. Meistens am Samstag. Manchmal auch am Donnerstag, oder am Montag, Dienstag und Mittwoch. Tatüütataa! Erzählen Sie mal einem Taxifahrer, dass Sie über die Torstraße fahren wollen, der schmeißt Sie unter tausend Flüchen und Verwünschungen sofort aus seinem Wagen. Oder er berechnet Ihnen 500 Euro pauschal, Barzahlung im voraus. Und schmeißt Sie dann trotzdem noch raus. Ein gottverdammtes, dysfunktionales, zugeschissenes Nadelöhr ist diese Straße. Die einzigen, die hier wirklich ungestört durchkommen, sind die zahlreichen Essens-Auslieferer in ihren hellblau oder orange gefärbten Alufolien-Rikschas. Aber die wurden ja auch im indischen Straßenverkehr ausgebildet. Es hilft tatsächlich, sich eine beliebige Kreuzung in Mumbai oder Bangalore vorzustellen, dann erscheint einem das alles hier schon wesentlich entspannter. Ich war noch nie in Indien, habe aber mal eine Woche im Zentrum von Istanbul verbracht, danach stand ich kurz vor einem Hörsturz und Berlin kam mir vor wie ein Dorf. Reisen macht diese Stadt immer noch erträglich.

Kurz vor der nächsten Kreuzung hat jemand „Webdesign“ über seinen Laden meißeln lassen, direkt ins Mauerwerk. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde das lustig, dass da „Webdesign“ steht, in Stein gehauen, als Teil der Architektur, für die nächsten hundert Jahre. Über der Einfahrt zur Schönhauser thront eine voluminöse Mama in knappen Dessous. Die Marke Dove macht noch immer Werbung mit dicken Models, offenbar sehr erfolgreich. Es macht durchaus Sinn: Je mehr Quadratmeter Haut, desto mehr Bodylotion wird gebraucht. Ist Ihnen übrigens schon mal aufgefallen, dass auf der Welle der Body Positivity und Plus Size Models immer nur Frauen reiten? Haben Sie schon mal irgendwo unironisch ein übergewichtiges Männermodel gesehen? Irgendwo?

An der Ecke Prenzlauer Allee steht das Soho House. Hier hat mal Madonna gewohnt, während einer ihrer Berliner Gastspiele. Gerüchten zufolge hatte sie die gesamte obere Etage gemietet und renovieren lassen. Nur für eine Woche. Ihr hat wohl die Wandfarbe nicht gefallen. Vielleicht hatte der Seifenspender im Master Bad auch das falsche Aroma. Nur der Denkmalschutz konnte sie davon abhalten, das komplette Gebäude zu sprengen und ein neues Domizil nach ihrem Gusto zu errichten. Wenige Kilometer weiter östlich habe ich im Zimmer eines Schulfreundes einst heimlich einen Fanbrief an Madonna gelesen. Er hatte ihn an irgendein westdeutsches Autogrammbüro adressiert, das er in der Bravo gefunden hatte. Ich habe ihm nie erzählt, dass ich diesen Brief gelesen hatte, weil ich dachte, dass ihm das peinlich sein könnte. Damals war gerade „Live to tell“ erschienen. A man can tell a thousand lies, I’ve learned my lesson well … Madonna sah plötzlich anders aus. Eine neue Frisur, ein neues Image, in den folgenden Jahrzehnten sollte das natürlich zur Routine werden. Nicht im Traum hätten wir uns vorstellen können, dass diese Frau eines Tages in dem ehemaligen SED-Bunker absteigen würde. An der Torstraße Nr. 1, damals noch Wilhelm-Pieck-Straße. Das heutige Soho House hat mehr bizarre Wandlungen mitgemacht als das mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit aufgepumpte Gesicht von Madonna. Was ist nur aus dir geworden, Frau Ciccone? Was ist aus uns geworden? Wahrscheinlich genau das, was zu erwarten war. Noch mit 70 wirst du dich in Strapsen auf dem Boden wälzen und „We need a Revolution“ stöhnen. Mit einer halben Milliarde Dollar auf dem Konto und Luxus-Villen weltweit. Während wir immer noch über den Berliner Straßenverkehr stöhnen.

Auf der Strecke zwischen Prenzlauer Allee und dem Platz der Vereinten Nationen (Goodbye Lenin!) beruhigt sich der Verkehr kurzzeitig. Nur um weiter oben vom nächsten Sirenen-Inferno empfangen zu werden. Es bleibt, wie es war – chronische Verstopfung, Kollaps, Kindergeburtstag, Madonna hat ein neues Gesicht und im Nahen Osten brennt mal wieder die Hütte. Tatüütataa! What else is new?

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