Waschtag

Im Waschsalon hat jemand ein englisch-russisches Wörterbuch neben einer angefangenen Packung Trocknertücher liegengelassen. Ich sehe dies als hilfreiche Fügung. Nein, meine Russischkenntnisse möchte ich gerade nicht auffrischen, aber ich muss jetzt unbedingt mal eines dieser dünnen Tücher der Marke Lenor Aprilfrisch ausprobieren, für mich eine Premiere. Also rein mit dem Teil in den Trockner – wenn das Universum Anweisungen erteilt, darf ich nicht lange zögern! Den Rest der Packung hinterlasse ich der schlecht duftenden Nachwelt, Sharing is caring, in mir schlummert vielleicht doch noch ein Kommunist, Дружба, товарищи! Die Wartezeit verbringe ich im Café nebenan. Keine zwei Minuten vergehen und es passiert, was passieren muss: eine lippengepiercte Ökoschlunze jenseits der vierzig führt direkt vor mir eine öffentliche Erziehungs-Performance auf. „Kilian-Alexander, wir hatten doch eine Vereinbarung!“ ruft sie ihrem etwa 2-jährigen Sohn energisch zu, der nur orientierunglos in die Gegend grinst. Welche Vereinbarung er offenbar gerade nicht eingehalten hat, ist weder mir als Zuschauer noch dem Kleinen selbst klar. Wer weiß, wie viele er schon eingehen musste, alle notariell beglaubigt und wahlweise mit Nabelschnurblut oder veganen Fingermalfarben unterschrieben, da kann man schon mal durcheinander kommen. Ich denke kurz darüber nach, der nervigen Mutter eines der aprilfrischen Trocknertücher in den Mund zu stopfen, da sehe ich ein Buch aus ihrem Rucksack ragen, „Schmerzen verstehen“, und schon tut sie mir wieder ein ganz klein wenig leid. Am Nachbartisch sitzen zwei Experten vom Typ gescheiteter Startup und reden unbeirrt über den nächsten Finanzcrash. Der wird uns wohl spätestens Ende 2020 in den Abgrund reißen. Vielleicht auch erst 2021 oder 2022, die Beiden sind sich noch nicht ganz einig. Auf jeden Fall stehen die Zwanziger Jahre wieder vor der Tür und wer schlau ist, investiert jetzt noch schnell in Gold, ausländische Währungen oder in ein Ticket für Elon Musks Weltraum-Taxi. Denn im All gibt es keine faulen Kredite und keine EZB. Noch nicht. Vielleicht wird Kilian-Alexander ja eines Tages Hedgefont-Manager auf dem Mars – das wäre doch eine schöne Alternative zu dem ihm vorgezeichneten Weg (Erasmus-Studium, Fair-Trade-Praktika, Ödipus-Komplex) … Der wertvollste Finanztipp, den ich je erhalten habe, lautete übrigens: Warum versuchen Sie etwas zu sparen, das andere jederzeit nachdrucken können? Kurz darauf sitze ich schon wieder daheim, schnuppere an meiner tatsächlich dezent frühlingsfrischen Wäsche, höre dazu Musik und kippe meine schmutzigen Gedanken ins Internet. Das ist hier ja auch nichts anderes als eine mentale Waschmaschine im permanenten Schleudergang.

2 Kommentare zu „Waschtag

  1. … nur wem alles scheißegal ist, ist wirklich frei!
    (auf englisch von Janis Joplin: Freedom’s just another word for nothin‘ left to lose.)

    Gruß
    Jens

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..