Prenzlauer Berg. Ich war zuerst hier. Dann kamt ihr mit eurer Mülltrennung, euren Fahrrädern und eurer Bioscheiße. Aber ich bleibe trotzdem. Aus Prinzip. Und blogge zurück. (Kiezneurotiker, 2012)
I am big! It’s the pictures that got small.
(Norma Desmond in „Sunset Boulevard“)
Wir stehen vor dem alten Haus, die Tür zum Hof ist offen. Ein Tor in die Vergangenheit. Nichts hat sich hier verändert. Ich habe keine Luxus-Sanierung erwartet, aber doch wenigstens einen neuen Anstrich, eine notdürftige Renovierung. Stattdessen: nichts. Weniger als Nichts. Das Haus verfällt. Wir stapfen die morschen Treppen im Seitenflügel hoch. Im zweiten Stock habe ich gewohnt, fast sieben Jahre lang. Natürlich war das Haus schon damals vergammelt, aber wenn man jünger ist, stört einen das ja nicht, im Gegenteil. Im Treppenhaus traf ich manchmal Lars Eidinger. Bevor er zu Lars Eidinger wurde. Über mir rumorte eine Zeit lang eine japanische DJane und ich selbst hatte durch meine ausufernden Wochenend-Vergnügungen regelmäßig die Polizei vor der Tür. Ich glaube, es gab damals niemanden, der nicht in diesem Haus zu Gast war. Nein, ich übertreibe nicht. Ich erinnere mich auch noch an den lustigen dänischen Kunsthändler aus dem Hinterhaus. Dem hatte ich mal einen alten Leinwandschinken abgekauft und dann weiß übermalt. Weiß auf Leinwand, dazu ein roter Kunstledersessel vom Sperrmüll, eine riesige Holzplatte als Schreibtisch und eine alte Vitrine, so sah mein Zimmer damals aus. Hatte ich auch ein Bett? Ich weiß es nicht mehr. Im Vorderhaus lag das Times, eine der besseren Bars der Gegend, wir sind früh morgens immer direkt durch den Hinterausgang in unsere Wohnungen zurückgetorkelt. Frank Castorf und Kathrin Angerer hockten hier gerne depressiv bei einem Rotwein zusammen, und zum Jahreswechsel 98/99 haben wie hier die großartigste Silvesterparty aller Zeiten gefeiert. Brechend voll war es, der halbe Kiez drängte sich in dem kleinen Raum und tanzte auf den Tischen. Tonight we gonna party like it’s nineteen ninety-nine! It was. And we did.

Ich kenne da diese Frau, eine Journalistin, deren Vater einst aus der DDR geflüchtet und nach Kanada ausgewandert war. Auch sie war damals häufig in dem alten Haus zu Gast und tanzte ausgelassen über die Dielen. Neulich erst haben wir festgestellt, dass ihr Mann, ein Ostberliner wie ich, in den 80er Jahren in genau diesem Haus aufgewachsen ist, über das ich gerade berichte. Vielleicht darf sich hier deshalb nichts verändern, es ist ein Museum, ein Spukschloss. Man sollte die Touristen aus dem Berlin Dungeon hier durchführen. Aber es wohnen immer noch Leute hier. Wir gehen auf den Dachboden, auch hier steht die Tür offen. Überall Schutt, Asche und der Duft von Fäulnis, nicht mal die Ratten kommen hier noch hoch. Es sieht aus wie in diesen verlassenen oder besetzten Abriss-Buden, die wir während der Wendezeit aus Abenteuerlust erkundet haben. Wie lange dauert es wohl noch, bis das alles einstürzt? Entweder läuft hier die längste und sinnloseste Entmietungs-Kampagne der Immobilien-Geschichte oder der Hausbesitzer liegt längst selbst irgendwo als Skelett in der Ecke … Buhuu … Machen Sie jetzt ein Selfie mit dem Gespenst! Wir befinden uns übrigens keine hundert Meter vom Kollwitzplatz entfernt, also dem Gentrifizierungs-Klischee schlechthin. Etwas später sitzen wir dann im Chagall, weiter unten am Senefelder Platz. Auch hier hat sich nichts verändert, es ist immer noch die selbe Einrichtung, der selbe dunkle, vermoderte Charme, Soljanka steht auf der Speisekarte, Funzelkerzen auf den Tischen. Wenn wir nicht bald hier rauskommen, bleiben wir wohlmöglich in einer Zeitschleife gefangen.
Natürlich stimmen die Klischees, sie stimmen immer bis zu einem gewissen Grade. Es gibt hier all das, wofür der Bezirk in den letzten Jahren so berüchtigt wurde. Es gibt die Eigentumswohnungen, die Penthäuser, die überteuerten Boutiquen, die albernen Bioläden mit ihren im Mondschein gedrechselten veganen Brotaufstrichen für 30 Euro das Glas, es gibt die Mami-Cafés, die Yoga-Studios und die ganzen zugezogenen Honks, über die sich der Kiezneurotiker in seinem Blog immer so in Rage brachte. Es gibt das alles. Aber es gibt parallel dazu eben auch immer noch das Andere, den Staub, die alten Nischen, die Fossilien, die Geschichten aus der Gruft. Apropos: Was ist eigentlich aus dem Kiezneurotiker geworden? Hat er inzwischen schon irgendwo seine digitale Auferstehung erlebt? „Der Irre spricht aus dem Jenseits. In Rätseln“, so prophezeite er bereits vor einigen Jahren, bevor er den Stecker zog. Ich bilde mir ein, dass zumindest sein Geist hier noch mitliest. Schon bläst ein kalter Hauch über die Tastatur, das Licht geht aus und ein dreckiges Lachen ertönt.