Lang und breit

Das dünnste Buch, das ich in den letzten Monaten gelesen habe, war Die Rosenbaum-Doktrin und andere Texte, ein kleiner Erzählband von Wolfgang Herrndorf (ca. 60 Seiten), aus dem ich an dieser Stelle bereits zitiert hatte. Das dickste war eindeutig ES von Stephen King (1.500 Seiten), das ich mir aus einer Laune heraus kaufte, da mir der Trailer zur Neuverfilmung so gut gefiel und ich zuvor tatsächlich noch nie etwas von King gelesen hatte. Und seinen Launen sollte man unbedingt immer, zumindest so oft wie möglich, nachgeben, denn sie sind es, die uns erst interessant machen.

Wird der Umfang eines Buches eigentlich besser durch seine physische „Dicke“ beschrieben oder durch seine inhaltliche „Länge“? Die Dicke des gedruckten Buches wird vor allem durch das Material und die Typografie bestimmt, die Länge durch die Disziplin des Autors. Letztere ist leider eine seltene Gabe. Während ich mich noch immer durch Die Brüder Karamasow quäle (derzeit auf Seite 450 von 1.200), fällt mir wieder einmal auf, wie wenige Schriftsteller es doch fertigbringen, sich im Sinne des Lesers zu disziplinieren. Dostojewski zersetzt z. B. noch die kleinste Alltagsszene seiner Protagonisten mit endlosen Monologen über Religion und Moral, während die ermüdende Ausführlichkeit, mit der sich Stephen King immer wieder der Beschreibung von Abwasseranlagen widmet, eine Übung in literarischer Folter darstellt. Beide Autoren bringen mit ihrer epischen Laberitis die Dynamik ihrer Werke kein Stückchen voran, waren aber offenbar zu besoffen von der eigenen Schreibe, um dies zu bemerken. Grundsätzlich habe ich übrigens überhaupt kein Problem mit der Kunst des exzessiven Erzählens, solange man sie nur beherrscht. Eines meiner Lieblingsbücher ist American Psycho, bekanntermaßen eine monotone Aufzähl-Orgie, bei der der Leser immer zwischen Brechreiz und Wachkoma schwankt. Nur ist es hier eben – und das kann ich gar nicht ausdrücklich genug betonen – genau diese Erzähltechnik, und nicht das Erzählte selbst, die das Buch so außerordentlich gut und daher auch unverfilmbar macht. Dass es trotzdem verfilmt wurde (ja, sie haben sogar ein Musical daraus gemacht), gehört zur kulturellen Barbarei unserer Zeit, auf die ich hier jetzt nicht genauer eingehen möchte. Zum Thema Literaturverfilmung fällt mir aber noch ein, dass die Rolle des Aljoscha Karamasow einst von niemand anderem als William Shatner gespielt wurde, lange bevor er zum Captain des Raumschiffs Enterprise befördert wurde. Ich hoffe nun also wenigstens auf Karamasow – The Musical, gerne mit ein paar hübschen Science-Fiction-Elementen, das macht die Länge des Schinkens vielleicht erträglicher.

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6 Kommentare zu „Lang und breit

  1. Um der Karamasow-Lektüre doch noch etwas abzugewinnen, hier ein vergleichsweise kurzes Zitat (warum soll ich denn alleine leiden?):

    Über den russischen Mönch und seine mögliche Bedeutung

    Meine Väter und Lehrer, was ist ein Mönch? In der aufgeklärten Welt wird dieses Wort von manchen heutzutage schon mit Spott ausgesprochen, und von einigen geradezu als Schimpfwort gebraucht. Und je länger das dauert, desto schlimmer wird es. Leider ist es wahr, daß es auch unter den Mönchen viele Tagediebe, Wüstlinge, Schlemmer und Herumtreiber gibt. Auf sie weisen die gebildeten Weltleute hin. »Ihr seid Faulenzer und nutzlose Glieder der menschlichen Gesellschaft!« sagen sie. »Ihr lebt von fremder Arbeit, als schamlose Bettler!« Und doch gibt es unter den Mönchen auch so viele demütige und fromme Männer, die es nach Einsamkeit verlangt und nach heißem Gebet in der Stille. Auf sie weisen die Weltleute weniger hin, ja sie übergehen sie sogar stillschweigend. Wie würden sie sich aber wundern, wenn ich sage, daß von diesen frommen, sich nach einsamem Gebet sehnenden Mönchen vielleicht noch einmal die Rettung der russischen Erde kommen wird! Denn in Wahrheit sind sie in der Stille vorbereitet »auf den Tag und die Stunde und den Monat und das Jahr«. Sie bewahren bis dahin in ihrer Einsamkeit das Bild Christi herrlich und unentstellt in der Wahrheit Gottes, so wie es aus der Zeit der ältesten Väter, der Apostel und Märtyrer überliefert ist; und sobald es nötig ist, werden sie es der schwankenden Wahrheit dieser Welt zeigen. Das ist ein gewaltiger Gedanke. Vom Osten her wird dieser Stern aufgehen.

    Ja, vom Osten her! Natürlich immer abhängig davon, auf welchem Fleck der Landkarte man selber gerade steht. Man sollte dazu vielleicht wissen, dass Dostojewski sich im Laufe seines Lebens von einem glühenden Sozialisten mit Hilfe von etwas sibirischer Lagerhaft zu einem frommen Christenmenschen entwickelte. Einige Jahrzehnte später wurde in Russland diese Form der Umerziehung dann bevorzugt in umgekehrter Richtung praktiziert. Selig sind die doppelt Vernebelten!

  2. Du bist leidensfähig. Respekt. Ich hab kürzlich alle meine Dostojewski Bände ungelesen der Stadtbücherei gespendet, weil ich mir sicher war, dass ich sie niemals zur Hand nehmen werde.

      1. Nein, natürlich nicht.
        Die Fischer Taschenbuch Ausgabe aller Thomas Mann Werke habe ich denen gleich mit aufgedrängt. Über den Zauberberg und die Buddenbrooks bin ich nie hinausgekommen, nur jede Menge Sekundärliteratur habe ich seinerzeit verschlungen.

        Schuld ist im Grunde Herrndorf, hat man erst mal mit ihm angefangen, will man nichts anderes mehr lesen.

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