Dick aufgetragen

Im 25. Jubiläumsjahr des Mauerfalls wieder einen kalten Krieg zu thematisieren, ist schon bitter. Vielleicht waren die Medien hierzulande daher auch ganz dankbar dafür, dass sie noch rechtzeitig vor den Feierlichkeiten auf andere altbekannte Schreckens-Szenarien (Lokführer, Ebola, Islamischer Staat) umlenken konnte. Aber da ist er wieder, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, Mahner und Versöhner in einer Person und erinnert uns daran, dass es ohne Moskaus Einverständnis, damals Ende der 80er Jahre, in diesem Herbst wahrscheinlich nicht viel zu feiern gäbe. Hat Gorbatschow die Mauer geöffnet? Zumindest hatte er wohl mehr damit zu tun als David Hasselhoff, die Scorpions oder Wolf Biermann.

„Gibt es überhaupt im Kreise der westlichen Völker eine Möglichkeit, gegen die bluttriefende Härte der russischen Menschenführung anzukommen, ohne wenigstens ein Stück von der freien Welt zu verraten?“ schrieb Friedrich Siegburg 1952*, nur wenige Jahre, nachdem – auch mit russischer Hilfe – die bluttriefende Härte der deutschen Menschenführung vorerst beendet wurde. Seit dem taugt der Russe den Deutschen abwechselnd als Feindbild, großer Bruder, Karikatur oder auch als sehnsuchtsvolle Projektion, auf jeden Fall als klischeebeladenes Abziehbild. Putin, Kaminer, Birkenwälder, Matrjoschkas, Kosakenchöre und natürlich jede Menge Wodka. „Dit gibt’s ja in keenem Russenfilm!“ lautete einst ein beliebter Spruch der Berliner Nachkriegsgeneration, denn im „Russenfilm“, den pathetischen Heldendramen aus sowjetischer Produktion, schien damals alles möglich. Noch immer scheint man im Reich der Superlative gerne dick aufzutragen: sowohl beim Make-up als auch bezüglich der politischen Gesten. Und noch immer schüttelt man im „Kreise der westlichen Völker“ den Kopf darüber. Dass Kapitalismus nicht nur mit der SPD, sondern auch mit dem KGB wunderbar zu funktionieren scheint, verblüfft und erzürnt so manchen westlichen Beobachter bis heute. Wo bleibt denn da die protestantische Bescheidenheit, wer kümmert sich um die Menschenrechte, und vor allem (es wird langsam wirklich wieder kalt draußen): wo bleibt das Gas?

* „Das Gelächter des Kriegsgottes“, Friedrich Sieburg: Nur für Leser / Jahre und Bücher, dtv, 1961

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„…Die Fotografin poträtiert die Kinder in ihren Rollen als zukünftige Führungsschicht Russlands, auf deren Gesichtern sich die inneren Dramen abspielen. Wie bei Jakob, der mit sich selbst im Krieg steht und in seinem Zimmer auf Ballerinas schießt.“

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